© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Wir müssen den Russen, wenn wir in Freundschaft mit ihnen leben wollen, den Eindruck machen, daß wir ohne sie bestehen können, sie nicht brauchen und nicht fürchten, nichts von ihnen begehren und uns auch ohne sie jeder Eventualität gewachsen fühlen.“ (Bismarck, 1888)

˜

Bemerkenswert, daß angesichts des Kriegs in der Ukraine das Geschwätz über „tradierte Rollenbilder“ verstummt: Männer kämpfen, Frauen halten ihnen den Rücken frei, sorgen für die Familie oder bringen sich mit den Kindern in Sicherheit.

˜

Le Salon Beige, ein Blog französischer Katholiken, berichtet über eine Entscheidung des Kassationshofs in Toulouse. Die betraf ein Urteil des Appellationsgerichts von Montpellier aus dem Jahr 2018. Darin war festgelegt worden, daß, nachdem der Vater einer Tochter sich als Transgender definiert hatte, nur noch die Mutter als „biologischer Elter“ zu betrachten sei. Die neue Entscheidung sieht vor, daß der Vater künftig als zweite Mutter zu betrachten ist.

˜

„Das Syndrom des politischen Moralismus läßt sich auf die Formel bringen: Je schwächer der gesunde Menschenverstand, desto stärker die Gesinnung. Und wo Gefühle statt Argumente die Debatten bestimmen, kommt es ganz unvermeidlich zur Verteufelung der Andersdenkenden. Alle Sachfragen geraten in den Sog moralistischer Polemik, und so wird heute ganz selbstverständlich der politische Gegner als unwählbar behandelt. Im Extremfall, der leider immer häufiger eintritt, sieht der politische Moralist im politischen Gegner einen Unmenschen. So wird die Exkommunikation wieder aktuell – als sozialer Boykott.“ (Nobert Bolz in: „Keine Macht der Moral! Politik jenseits von Gut und Böse“, Matthes & Seitz, 2021)

˜

Der erste Preis für Originalität bei Rechtfertigung des russischen Angriffs auf die Ukraine gebührt ohne Zweifel denen, die glauben, hier werde eine Art Befreiungskrieg geführt, um die Menschheit vor den Folgen des Great Reset zu bewahren.

˜

Am Beginn der 11. Klasse wurde unser Fach „Gemeinschaftskunde“ umetikettiert. Es hieß in Zukunft „Sozialkunde“. Das entsprach dem progressiven Zeitgeist. Zu dessen Anhängern gehörte auch der neue Lehrer, ein junger, ziemlich charismatischer Mann. Zu behandeln war das Verfassungssystem der Bundesrepublik. Also sagten wir brav auf, was wir als angehende Staatsbürger gelernt hatten. Sobald die Rede auf die Gewaltenteilung kam, umspielte den Mund des Pädagogen ein wissendes Lächeln, und zu unserer Überraschung erfuhren wir, daß „die Herrschenden“ das System der Checks and Balances längst ausgehebelt hätten. Überall säßen ihre Leute, und von Machtkontrolle könne weder im Hinblick auf die Parlamente noch die Gerichte die Rede sein. Damals glaubte ich das nicht.

˜

1978 erschien zuerst in Frankreich, dann in zahlreichen Übersetzungen ein Buch von Hélène Carrère d’Encausse, das für Aufsehen sorgte. Der Titel der deutschen Ausgabe lautete: „Risse im roten Imperium. Das Nationalitätenproblem der Sowjet-union“. Während alle Welt dem Ostblock eine Ewigkeitsgarantie ausstellte, erklärte die französische Politikwissenschaftlerin, daß das kommunistische System zwei Sollbruchstellen habe, an denen es zugrunde gehen könnte: den wachsenden Einfluß des Islam und den Geburtenrückgang der großrussischen Bevölkerung, der die ethnischen Machtverhältnisse innerhalb der Sowjetunion dramatisch verschiebe und das Wiedererwachen nationaler Identitäten befördere, die man schon erledigt geglaubt hatte. Für Hélène Carrère d’Encausse hatten sich die Verheißungen des Marxismus, daß in einer sozialistischen Gesellschaft Religion wie Volkszugehörigkeit ohne Bedeutung sein würden, erkennbar als falsch erwiesen.  Eine Schlüsselrolle im Prozeß der Desintegration kam ihrer Meinung nach der Ukraine zu. Das nicht nur wegen der Kollektiverinnerung an die brutalen Ausrottungs- und Unterdrückungsmaßnahmen Moskaus und der Stärke der ukrainischen Dissidenz, sondern überraschenderweise auch, weil die Ukraine in der Union längere Zeit als „kleiner Bruder“ Rußlands privilegiert worden war. Um so empfindlicher reagierte man dort seit den 1960er Jahren auf jede Maßnahme, etwa im Schulunterricht, die als „Russifizierung“ gelten konnte, und sogar innerhalb des Apparats der So-wjetukraine machten sich Tendenzen einer „Reukrainisierung“ bemerkbar. In einer Art Bilanz ihrer Untersuchung schrieb sie mehr als zwanzig Jahre vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine: „Die Ukraine ist eindeutig die paradoxeste Nation der Sowjetunion. Sehr ähnlich Rußland in Größe und Interessen, befindet sie sich auf dem Wege zur Russifizierung und trägt eine Menge zum allgemeinen Funktionieren des Systems bei. Aber sie renationalisiert sich ebenso schnell, wie sie sich zu entnationalisieren scheint. Es erhebt sich sogar die Frage, ob nicht die ukrainische Elite einen ukrainischen Nationalismus entwickelt, selbst ohne die Unterstützung, die normalerweise eine nationale Sprache bietet.“


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 1. April in der JF-Ausgabe 14/22