© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Der Splitter im Auge des anderen
Kino: In dem Film „Drei Etagen“ verknüpft der italienische Regisseur Nanni Moretti kunstvoll Existenzdramen miteinander
Dietmar Mehrens

Nanni Moretti wurde dadurch bekannt, daß er auf einer Vespa durch Rom düste, am Rand der Straße ein paar mehr oder minder bedeutsame Begegnungen hatte, alles von einer Kamera aufnehmen ließ und das Ganze dann unter dem Titel „Liebes Tagebuch“ (1993) in die Kinos brachte. So viel Mut zur Banalität honorierten Publikum und Kritik: „Liebes Tagebuch“ wurde ein Überraschungserfolg. Seitdem sind fast drei Jahrzehnte vergangen. Zwischendurch erregte Moretti Aufmerksamkeit mit dem bewegenden Filmdrama „Das Zimmer meines Sohnes“ (2001) zum Thema verwaiste Eltern und einigen eher komischen Streifen. Jetzt kommt sein neuer Film „Drei Etagen“ in die Kinos. Der aus Südtirol stammende Regisseur ist darin wie in den beiden genannten Vorgängern auch vor der Kamera zu sehen. 

Am Anfang steht ein dramatisches Ereignis: Der Sohn der beiden Richter Dora (Margherita Buy) und Vittorio (Nanni Moretti) verursacht einen schweren Unfall, indem er betrunken mit dem Auto eine junge Frau überfährt, durch eine Fensterfront kracht und im Wohnzimmer von Lucio (Riccardo Scamarcio) und Sara vor den entsetzten Augen ihrer siebenjährigen Tochter Francesca zum Stehen kommt. Augenzeugin des Unfalls ist die hochschwangere Monica (Alba Rohrwacher), die sich gerade ein Taxi bestellen wollte. Sie sind die Hauptfiguren des Films. Sie sind auch die Bewohner von drei Etagen desselben Gebäudes – und nun durch den Unfall miteinander verbunden. Abgesehen davon gibt es nicht viele Berührungspunkte zwischen den drei Familien, deren Ergehen der Regisseur nun über einen Zeitraum von zehn Jahren folgt: Monica, die Schwangere, hat zwar ein gesundes Kind zur Welt gebracht. Doch sie leidet unter der Dauerabwesenheit ihres Mannes, des Ingenieurs Giorgio. Schließlich wird ein Familiengeheimnis gelüftet, das Giorgio schon lange mit sich herumschleppt.

Der Vater wittert einen Mißbrauchsskandal

„Du bist ein kompletter Schwachkopf, Andrea, schon immer gewesen.“ So lautet Vittorios hartes Urteil über seinen Sohn. Der Unfallverursacher muß ins Gefängnis. Die Haft besiegelt nur eine Entfremdung von seinen Eltern, die der Verurteilte als den eigentlichen Grund für sein Versagen betrachtet. Später kommt heraus: Vittorio hatte den Jungen bereits im Alter von acht Jahren nach einem Vergehen auf einen Stuhl gestellt und sein Richteramt auch gegenüber seinem eigenen Sohn ausgeübt, als gäbe es zwischen Beruf und Familie keinen Unterschied.

Das Hauptaugenmerk der Geschichte aber gilt den Eltern der kleinen Francesca, die sich in der Schule auf einmal seltsam apathisch verhält. Anstatt das mit dem Unfall in Verbindung zu bringen, wittert ihr Vater Lucio einen Mißbrauchsskandal: Ausgerechnet der an Demenz erkrankte Babysitter Renato hat sich Lucios Überzeugung nach an Francesca vergangen. Als Renatos Enkelin aus Paris zu Besuch ist, läßt Lucio sich von der minderjährigen Nymphomanin verführen und sieht sich fünf Jahre später wegen des gleichen Delikts unter Anklage gestellt, das er Renato vorgeworfen hatte.

Dieser merkwürdige Zufall – es ist nicht der einzige in diesem Film – zeigt, was die drei Geschichten aus dem Haus mit den drei Etagen vor allem verbindet. Der Unfall kratzt nur an der Oberfläche. Darunter verborgen liegt der tiefere Grund vieler Konflikte: Die männlichen Hauptfiguren leiden alle unter demselben Syndrom. Man könnte es in Anlehnung an einen Ausspruch Jesu das „Balken im Auge“-Syndrom nennen. Denn Vittorio, sein Sohn Andrea, Monicas dauerabwesender Ehemann Giorgio und Lucio mit seinem paranoiden Verdacht: sie alle sind dermaßen fixiert auf den Splitter im Auge ihres Nächsten, daß sie für die eigenen, womöglich viel beträchtlicheren Charakterdefizite vollkommen blind sind, selbst dann noch, wenn sie, wie in Lucios Fall, deswegen sogar vor Gericht stehen.

Nanni Moretti hat mit der Verfilmung des Romans „Über uns“ von Eshkol Nevo Neuland betreten: Bisher hatte der Filmemacher auf eigene Stoffe gesetzt. Trotz der Nüchternheit und des verhaltenen Erzähltons, die charakteristisch für Moretti sind, ist dem Regisseur ein wuchtiges Existenzdrama gelungen, das mit seinem scharf-analytischen Blick hinter die Kulissen scheiternder Bürgerexistenzen bei manchem Unbehagen auslösen wird. Oder doch wenigstens den ebenso dringenden wie unerfüllbaren Wunsch, den in fehlerhaften Verhaltensmustern gefangenen Akteuren ihren Balken aus dem Auge zu ziehen. Daß er mit seinem Werk auch ein pädagogisches Anliegen verfolgt, gibt der 68jährige offen zu. Die humanistische Mahnung bedarf, um genügend Nachdruck zu bekommen, einer dramatischen Wirkung, der sich Logik und Wahrscheinlichkeit unterzuordnen haben. Das ist dem Film leider oft anzumerken.

Kinostart ist am 17. März 2022

Foto: Andrea (Alessandro Sperduti) kommt nach dem Unfall vor der siebenjährigen Francesca (Chiara Abalsamo) zum Stehen