© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Putin kann die Ukraine zerstören, aber nicht den Krieg gewinnen
Mit Sanktionen zum Frieden
Joachim Starbatty

Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant hat in seinem Essay „Zum ewigen Frieden“ (1795) den weltweiten Handel als Sicherung des Friedens angesehen. Der wechselseitige Gewinn beim Tausch von Leistungen jeglicher Art könne mit dem Kriege nicht zusammen bestehen. Unter allen Mächten, die der Staatsmacht untergeordnet seien, sei die Geldmacht wohl die entscheidende. Daher sähen sich Staaten („freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moral“) gezwungen, „den edlen Frieden zu befördern und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittlungen abzuwehren“. Besser könnte kein Ökonom die These vertreten, daß weltweiter Handel den beteiligten Nationen Wohlstand verschaffe, den sie durch Kriege aufs Spiel setzten. 

Warum läßt Putin dann seine Armeen in die Ukraine einrücken? Er behauptet, daß die Nato-Osterweiterung Rußlands Sicherheit bedrohe. Nun würde die Nato in Europa keinen Krieg beginnen – das wäre ja Selbstmord, doch einem Nato-Mitglied Ukraine müßte sie im Falle eines russischen Angriffs beistehen. Dann gäbe es womöglich einen dritten Weltkrieg. Das könnte sogar Putin abschrecken, und damit wäre die Ukraine seinem Einfluß entzogen. Denkbar ist aber auch, das ist vielleicht sogar wahrscheinlicher, daß er eine demokratische, friedliche und prosperierende Ukraine vor seiner Haustür als Bedrohung der eigenen Machtbasis ansieht. Wenn Putin die zwei Völker Weißrussen und Ukrainer in die Russische Föderation holen will, handelt er gegen den Willen des ukrainischen Volkes, das in Freiheit und Demokratie leben will.

Wenn der Schaden, den Putin mit dem Krieg seinem eigenen Volk antut, ihn nicht von einem Angriff abgehalten hat, werden ihn dann Sanktionen zum Rückzug bewegen oder zur Vernunft bringen? Sanktionen schädigen bei weltweiter Arbeitsteilung auch die Staaten selbst, die sie gegen einen Aggressor verhängen. Dabei sind nicht bloß wirtschaftliche Schäden zu berücksichtigen, sondern auch die jeweiligen nationalen Befindlichkeiten. Putin nimmt darauf keine Rücksicht – er läßt die Menschen, die gegen seine Politik protestieren, ins Gefängnis werfen; unsere Politiker sind dagegen um die Rückwirkungen der Sanktionen auf die Bevölkerung besorgt. Daher lohnt ein Blick auf die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse und die daraus resultierenden Schädigungen von Sanktionen für den jeweiligen Gegner. Dabei muß man auch die Wirkungen im Zeitverlauf im Blick haben.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht bei uns die Abhängigkeit vom russischen Erdgas und Erdöl – keine Produktion ohne Energie. Daher ist man allgemein der Ansicht, daß Deutschland in höherem Maße erpreßbar sei als Rußland. Wenn Rußland die Hähne zudreht, kann das wegen der in unserem Lande vorgeschriebenen Bevorratung für eine Zeitlang kompensiert werden, bevor die Energieknappheit zu einem ernsthaften Problem wird. Weiter ist Energie ein Gut, das nahezu beliebig substituiert werden kann. Wenn Rußland nicht liefert, können andere Energielieferanten einspringen. Doch muß mit Preisaufschlägen gerechnet werden. Die gerade nach oben schießenden Erdöl- und Erdgaspreise lassen uns das spüren. Da können die Abnehmer nicht ausweichen, und die Verbraucher werden zur Kasse gebeten. Doch hat es bisher auf den internationalen Märkten keine Verknappung gegeben. Nicht bloß Angebot und Nachfrage sind verantwortlich, sondern auch Panikreaktionen. Solche Preisausschläge sind aber aller Erfahrung nach nicht von Dauer. Die Lage normalisiert sich schließlich, die Preise gehen zurück. und eine geänderte Nachfrage-Angebots-Konstellation pendelt sich ein. Auch Rußland sieht sich gezwungen, für seine Produktion neue Abnehmer zu finden. Ein russischer Lieferboykott würde das Land selbst dauerhaft schädigen, weil dringend benötigte Devisen ausblieben. 

Deutschland nimmt derzeit weiter russisches Erdgas und Erdöl ab, weil unsere Politiker glauben, noch stärker steigende Energiepreise und damit die Schmälerung des Wohlstands den Bürgern nicht zumuten zu können. US-Präsident Joe Biden will dagegen die Erdölimporte gänzlich stoppen. Er hat auch weniger zu verlieren. Unsere Regierung zuckt vor Sanktionen zurück, die Rußland wirklich weh tun, weil sie auch uns weh tun. Doch könnte etwa bei den Benzinpreisen, deren Kostenbestandteile sich zur Hälfte aus staatlichen Abgaben zusammensetzen, die Mehrwertsteuer von 19 auf sieben Prozent gesenkt werden, wie der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans vorgeschlagen hat, oder sie könnte eine Zeitlang gänzlich entfallen. Wenn unsere Regierung es mit ihren Sanktionen ernst meint, muß sie auch konsequent bleiben.

Solange Putin die Ukraine weiter besetzt hält, muß er damit rechnen, daß die Sanktionen aufrechterhalten werden und ihm daher Devisenreserven fehlen, um dringend benötigte Investitionsgüter zu kaufen. Rußland braucht sie, um sich vom Exporteur seiner Rohstoffe, also vom Ausverkauf seines Reichtums, zu einem Industrieland auf technologisch hohem Niveau zu entwickeln. Hier sitzt der Westen am längeren Hebel. Den Krieg der Sanktionen kann Putin nicht gewinnen. Wenn die USA und die EU Putin zu einer Beendigung des Krieges zwingen wollen, ist eine Einhaltung und Verschärfung der Sanktionen ein schärferes Schwert als die Lieferung von Waffen an eine Ukraine, die eine zur Verteidigung des Landes notwendige militärische Infrastruktur erst noch aufbauen muß.

Was wir bisher von diesem Krieg gehört und gesehen haben, sind Leid und Verzweiflung, zerstörte Stadtteile, Menschen auf der Flucht und solche, die mit ihren Körpern Panzer aufhalten wollen. Wir wissen von dem Mut und der Entschlossenheit, mit der sich die Ukraine dem Aggressor in den Weg stellt. Ukrainische Männer – Arbeiter, Studenten, alle, ob erfahren oder ungeübt – greifen zu den Waffen und wollen ihr Land verteidigen. Anscheinend hat die russische Armee mit einer solchen Gegenwehr nicht gerechnet oder war nicht entsprechend vorbereitet. Ein Blitzkrieg ist es auf jeden Fall nicht geworden. Auch die inzwischen in der Ukraine angekommenen Waffen stärken, so hört man, die ukrainische Verteidigungskraft. Wird der ukrainische Widerstand Putins Armee zum Rückzug zwingen, oder wird Putin nachrüsten und die Ukraine durch Bomben in die Knie zwingen wollen? Das würde die Ukraine als Nation auslöschen. Oder wäre er zu einem allgemeinen Waffenstillstand bereit? Das würde die Ukraine überleben lassen.

Erinnert sei an Kant, daß die Staaten sich aus eigenem Interesse gezwungen sähen, den edlen Frieden zu befördern oder einen Krieg, der beide Kriegsparteien bloß schädige, zu beenden. Putin und seine Clique werden nicht verdrängen können, daß sie den Krieg nicht gewinnen können, weil die fortdauernden Sanktionen ihr Land verarmen lassen. Daher dürfte er sich nicht gegen Verhandlungen sperren, die auf ein Kriegsende gerichtet sind. Der Westen muß sich neu positionieren, um einen dauerhaften Frieden mit Rußland zu sichern.

Es ist anzunehmen, daß Putin sich und der Welt auch beweisen will, daß Rußland eine Weltmacht ist und nicht bloß eine Regionalmacht, wie der frühere US-Präsident Barack Obama das Land spöttisch genannt hat. Die Geringschätzung Rußlands wird Wunden geschlagen haben. Dazu gehört auch, daß Rußland aus der G8-Gruppe, der Gruppe der wichtigsten Industrienationen der Welt, nach der Annexion der Krim ausgestoßen wurde. Damit ist ein großes Land ins Abseits gestellt und ein entscheidender Gesprächsfaden abgebrochen worden. Über all das wird bei den Verhandlungen über den Status der Ukraine gesprochen werden müssen. Dabei müssen folgende Fragen behandelt und beantwortet werden: 

l Internationale Anerkennung der autonomen Republik Krim: Wenn es keinen Streit mehr zwischen Ukraine und Rußland gibt, ist es dann nicht zweitrangig für die Menschen, ob die Krim ukrainisches Staatsgebiet ist oder nicht?

l Donbass: Solange die Sowjetunion existierte, gab es keinen Unterschied zwischen Rußland und der Ukraine. Rußland wie die Ukraine waren ein Teil der Sowjet­union. Die Menschen siedelten sich je nach Möglichkeit dort an, wo sie die passende Arbeit finden konnten und leben wollten. Doch gibt es Verwerfungen, wenn Nationen selbständig werden und das, was bisher vereint war, auseinandergerissen wird. Zu verhandeln wäre, ob die Menschen im Donbass darüber abstimmen können, wie sie in Zukunft leben wollen. 

l Nato-Zugehörigkeit der Ukraine: Wenn das für Putin nicht verhandelbar ist, so könnte eine bündnisfreie Ukraine eine Alternative sein. Einen solchen Status haben Schweden, Finnland und die Schweiz inne, ohne daß sich die Menschen dort bisher von Rußland bedroht fühlten.  Im übrigen wäre eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, worauf sich allerdings die Mitgliedstaaten der EU verstehen müßten, für die Ukraine vorteilhafter als die Mitgliedschaft in der Nato. 

Rußland, seine Menschen, seine Kultur und seine Religion gehören zu uns und nicht an die Seite Chinas. Natürlich ist es unumgänglich, daß derzeit sportliche und kulturelle Kontakte abgebrochen oder auf Eis gelegt werden. Putin muß spüren, daß er nach seinem Überfall alleine dasteht, aber wir dürfen nicht sämtliche russischen Künstler, Wissenschaftler und Sportler mit Putin in einen Topf werfen und bestrafen wollen. Die Russen wollen in ihrer Mehrheit keinen Krieg.

Nicht zu vergessen Rußlands Beitrag für Europa: Die Russen waren ein Bollwerk gegen die asiatischen Reitervölker und Eroberer, sie haben Napoleons Traum eines geeinten Europas unter französischer Vorherrschaft zerschellen lassen und schließlich haben sie den empirischen Nachweis erbracht, daß der marxistisch-leninistische Sozialismus nicht funktionieren kann. Welches Land hat mehr für Europa getan!






Prof. em. Dr. Joachim Starbatty, Jahrgang 1940, ist Wirtschaftswissenschaftler, lehrte an der Eberhard- Karls-Universität Tübingen und war bis 2019 Abgeordneter des EU-Parlaments.

Foto: Musiker des Symphonieorchesters „Kiew-Klassik“ spielten hinter Panzersperren auf dem Maidan der Unabhängigkeit in Kiew ukrainische und europäische Hymnen sowie bekannte ukrainische Musikstücke: Der Mut und die Entschlossenheit, mit der sich die Ukrainer dem Aggressor entgegenstellen, erstaunt die Welt