© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Ein Idealist für Eurasien
Vor hundert Jahren wurde der geopolitische Denker und Gründer der Junges-Europa-Bewegung Jean-François Thiriart in Brüssel geboren
Karlheinz Weißmann

Zur Deutung des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde auch ein Begriff ins Spiel gebracht, der sonst für die politische Debatte kaum eine Rolle spielt: „Eurasien“. Das, was man die Eurasische Bewegung nennen könnte, ist ein ausgesprochen schillerndes Gebilde und hat bezeichnenderweise noch nie die Gestalt einer festeren Organisation oder Partei angenommen. Einer der wenigen, die jemals den Versuch unternahmen, diesen Zustand zu ändern, war der Belgier Jean-François Thiriart, der vor einhundert Jahren, am 22. März 1922, in Brüssel geboren wurde.

Allerdings war Thiriart nur für kurze Zeit, etwa zwischen 1960 und 1968, und noch einmal zwischen 1989 und 1992 politisch aktiv. Davor lag lediglich ein kurzes Engagement am Rande der belgischen Kollaboration. Zu deren Besonderheiten hatte ein starker Zustrom von links gehört, aus den Reihen derer, die in der Besetzung des Landes durch die Wehrmacht eine Art Ersatzrevolution sahen und auf die Überwindung des Kapitalismus in Hitlers „Neuer Ordnung“ hofften. Thiriart stammte jedenfalls aus dem Kleinbürgertum und war durch die Geisteshaltung seiner Eltern geprägt, die mit jenen Gruppierungen sympathisierten, die in den Zwischenkriegsjahren progressiv, prokommunistisch, antiklerikal und antifaschistisch gesinnt waren. 

Erst die Enttäuschung über das deutsch-sowjetische Bündnis führte zu einer gewissen Umorientierung, die auch den jungen Thiriart erfaßt haben dürfte. Er schloß sich aber nicht den einflußreicheren Parteien der belgischen Kollaboration – den Rexisten oder dem Verdinaso – an, sondern den eher marginalen Amis du Grand Reich Allemand (AGRA), also den „Freunden des Großdeutschen Reiches“, die den Zusatz „Mouvement Socialiste Wallon“, „Sozialistische Wallonische Bewegung“, führte. Die AGRA zeichnete ein eher proletarischer Charakter aus und der Verzicht auf Autonomie-Hoffnungen, die sonst für die Kollaborateure eine wichtige Rolle spielten. In ihren Reihen hielt man nationale Vorbehalte für überholt und verfocht eine Art „braunen Internationalismus“.

Nach der Befreiung Belgiens kam Thiriart eineinhalb Jahre in Haft, entging aber den schlimmsten Folgen der Säuberung, die das Land erfaßte. Am öffentlichen Leben nahm er danach keinen Anteil mehr, konzentrierte sich vielmehr auf den Aufbau seiner beruflichen Existenz. Ohne höheren Schulabschluß, aber überdurchschnittlich begabt, hatte er als Autodidakt früh umfassende Kenntnisse der Literatur, Geschichte, Philosophie und Soziologie erworben. Mit derselben Energie ging er jetzt daran, sich die Grundlagen des väterlichen Optikergewerbes anzueignen und in Richtung auf die Optometrie weiterzuentwickeln.

Die USA als Hauptfeind und mit der UdSSR friedliche Koexistenz

Thiriart gründete ein eigenes Unternehmen und war wirtschaftlich erfolgreich. Möglicherweise wäre es dabei geblieben, hätte Belgien nicht zu Beginn der 1960er Jahre eine dramatische Krise erfaßt. Hauptursachen dafür waren der Niedergang der Schwerindustrie und der Zusammenbruch des Kolonialreichs. Thiriart schloß sich damals dem Comité d’action et de défense des Belges d’Afrique (CADBA) an, das spontan aus der Empörung über Massaker an den Weißen im ehemaligen Belgisch-Kongo entstand. Allerdings gelang es der Gruppe trotz intensiver Propagandaarbeit nicht, die ziellose Wut der Bevölkerung zu kanalisieren und für eine umfassende Reform des politischen Systems nutzbar zu machen. In Reaktion darauf bildete sich der Mouvement d’action civique (MAC), der unter Leitung Thiriarts relativ rasch zur treibenden Kraft des CADBA wurde und die Orientierung an der Kolonialfrage aufgab. Politischer Einfluß war aber auch auf diesem Weg nicht zu gewinnen, was Thiriart in seiner Überzeugung bestärkte, daß von den Massen wenig zu hoffen sei. Es komme in erster Linie auf eine entschlossene Elite an, die er innerhalb des MAC sammeln wollte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Thiriart schon Kontakt zu Vertretern einer Strömung der Nachkriegsrechten aufgenommen, die sich als „nationaleuropäisch“ bezeichnete. Ihr Stichwortgeber war Oswald Mosley, weiland Führer der British Union of Fascists, während des Krieges interniert, dann auf freien Fuß gesetzt und mit der Forderung nach Schaffung einer „Nation Europa“ hervorgetreten. Die Beziehung zwischen Mosley und Thiriart scheint eng gewesen zu sein, aber ersterer hatte den Zenit seiner Wirkung längst überschritten, während letzterer überzeugt war, daß seine Zeit erst komme.

Thiriart glaubte, daß Mosley scheiterte, weil er zu vorsichtig, zu defensiv gewesen war. Diesen Fehler wollte er korrigieren. Das Sendungsbewußtsein Thiriart zeigte sich jedenfalls daran, daß er Europa als integrierten Block dachte, der sich von Spanien über ganz West- und Mitteleuropa bis nach Rumänien ausdehnen sollte. Schon die Einbeziehung von Ländern, die autoritäre, parlamentarische oder kommunistische Systeme hatten, zeigte, daß Thiriart Verfassungsfragen für nachrangig hielt. Ihm ging es in erster Linie um die Schaffung eines Großraums nach geopolitischen Vorgaben, der seine Unabhängigkeit gegenüber den Supermächten – die USA betrachtete Thiriart als Hauptfeind, mit der UdSSR suchte er eine Möglichkeit „friedlicher Koexistenz“ – nur erringen werde, wenn mit Hilfe eines „aufgeklärten Totalitarismus“ die Demokratie ebenso beseitigt würde wie die Menge nationaler Differenzen.

Obwohl die Argumentation Thiriarts in vielem an den Nationalbolschewismus Ernst Jüngers oder Ernst Niekischs erinnerte, ist nicht zu erkennen, daß ihn deren Schriften beeinflußt haben. Vielmehr hat man es mit dem Konzept eines Mannes zu tun, der als Konstruktivist und Materialist eine Politik entwarf, die er als logisches Ergebnis vernünftiger Einsichten betrachtete. Die von ihm mit Hilfe des MAC geschaffene Bewegung „Jeune Europe“, „Junges Europa“, entwickelte tatsächlich eine ungeheure Energie, organisierte Kaderschulungen, gab Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren heraus und publizierte 1964 und 1965 zwei Bücher Thiriarts – „Un empire de 400 millions d’hommes: l’Europe“ und „La Grande Nation. L’Europe unitaire de Brest à Bucarest“ –, die in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt wurden.

Keine Schnittmenge mit den Konzeptionen Alexander Dugins

Auch die Bewegung „Jeune Europe“ hatte multinationalen Charakter. Immerhin sammelte sie in ihren Reihen etwa 5.000 Mitglieder, davon der größte Teil in Italien. Aber weder fand Thiriart die Bündnispartner in der Dritten Welt, mit deren Unterstützung er fest gerechnet hatte, noch ließ sich sein Plan verwirklichen, „Europäische Brigaden“ zu schaffen, die im Nahen Osten, in Afrika, Asien oder Lateinamerika eingesetzt werden sollten, um dann für den Ernstfall auf dem Kontinent zur Verfügung zu stehen und eine Revolution voranzutreiben. Vor allem aber mangelte es an Widerhall in den europäischen Völkern. Auf den war das „Junge Europa“ trotz seines elitären Gestus aber angewiesen, schon weil man sich nicht nur gegenüber den etablierten Kräften, sondern auch gegenüber der Systemopposition isoliert hatte. Waren die einen für Thiriart nur „Fünfte Kolonne“ der Sowjets oder der Amerikaner, dann bestand die Rechte seiner Auffassung aus Romantikern oder Idioten, die Linke aus Opportunisten oder Träumern, wie denen, die 1968 die Barrikaden besetzten.

Nach dem „roten Mai“ zog sich Thiriart resigniert aus der Politik zurück und konzentrierte in den folgenden beiden Jahrzehnten alle Arbeitskraft noch einmal auf den Ausbau seines Unternehmens. Die Mitglieder seiner Organisation zerstreuten sich in alle Winde oder verlagerten ihren Einsatz, wobei das Spektrum von der französischen Neuen Rechten bis zu den italienischen Linksterroristen der Brigate Rosse reichte. Doch dann schien das weltanschauliche Chaos der postsowjetischen Welt Thiriart noch einmal eine Chance zu bieten, für seine Vorstellungen Gehör zu finden. 1992 reiste er deshalb nach Moskau und nahm dort an einer Konferenz mit Alexander Dugin teil. Tatsächlich konnte man glauben, daß es zwischen Dugin und den russischen „Eurasiern“ und Thiriarts Ansatz eine gewisse Schnittmenge gebe. Aber dieser Eindruck erwies sich rasch als falsch. Eine Hauptursache dafür war der am orthodoxen Christentum orientierte „Traditionalismus“ Dugins einerseits, das Beharren Thiriarts auf einer „paretoschen“, also strikt rationalistischen Konzeption andererseits.

Kurz nach seiner Rückkehr verstarb Thiriart am 23. November des Jahres, und es wäre im Grunde mit dem völligen Verschwinden der Erinnerung an seine Person wie seine Ideologie zu rechnen gewesen. Aber das Netz und die Digitalisierung sorgen auch hier für ein zähes Nachleben. Nur das erklärt, warum wesentliche Publikationen Thiriarts heute ungleich leichter zu erreichen sind als in den vorangegangenen Jahrzehnten, und sich ein in der analogen Welt vollkommen bedeutungsloser Parti Communautaire National-Européen (PCN) in der virtuellen durchaus zu behaupten weiß.

Foto: Geopolitische Konzeptionen eines Raumes zwischen Lissabon und Kamtschatka: Thiriart beschied sich später auf den politischen Block von Spanien bis Rumänien