© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Ein Kranz für Karl Marx
Der Journalist Ulli Kulke über den Diplomaten Erwin Wickert und die bundesdeutsche Außenpolitik vor dem Umbruch 1989
Florian Werner

Als einen „Jahrhundertmann“ mit politischem Feingefühl stellt die neu erschienene Biographie über Erwin Wickert den deutschen Diplomaten dar.  

Es ist der 2. Mai 1968. Schon den ganzen Tag lang ärgert sich der in London arbeitende bundesdeutsche Diplomat Erwin Wickert mit den Vorbehalten herum, die der französische Präsident Charles de Gaulle gegenüber einem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hegt.

In einer kurzen Pause, bei einem Spaziergang mit dem damaligen Bundesaußenminister Willy Brandt, kommt ihm dann auf einmal eine eigentümliche Idee. „Wickert nahm den Außenminister zur Seite. In drei Tagen, am 5. Mai, würde der 150. Geburtstag von Karl Marx anstehen, erinnerte er den SPD-Chef Brandt.“ Vor allem im Jahr 1968 war das ein Jubiläum von außerordentlicher Bedeutung. Der Autor des „Kapitals“ war auf dem Londoner Friedhof Highgate begraben.

Für Wickert bot sich damit die perfekte Gelegenheit, um den sozialistischen Staaten ein diplomatisches Schnippchen zu schlagen. „Und da wäre es doch schön, wenn die kommunistischen Delegierten aus aller Welt kämen und sehen, daß da schon ein Kranz von uns zu seinem Gedächtnis liegt. ‘Dem deutschen Philosophen‘ oder so ähnlich, versuchte er Brandt zu überreden.“ Gesagt, getan. Am 5. Mai kletterte er mit Legationsrat Kuhna über die Friedhofsmauer, um den Geburtstagskranz abzusetzen. Allerdings zu spät – eine Delegation der DDR hatte sich schon früher an Ort und Stelle eingefunden, um dem Urgroßvater der marxistischen Ideologie zu huldigen. „Ob Wickert sich danach eingestand, daß er einmal in seinem Leben zu spät aufgestanden war?“ fragt sich Ulli Kulke in der von ihm verfaßten Biographie über den deutschen Diplomaten, die er an einem grauen Januartag in Berlin vorstellt.

„Die neue Ostpolitik begann mit Erwin Wickert“

Mit von der Partie ist auch der Sohn des deutschen Gesandten, der langjährige „Tagesthemen“-Moderator Ulrich Wickert. Sein Vater habe sich geradezu „diebisch“ über die Idee mit dem Kranz gefreut, berichtete er bei der Präsentation des Buches. „Erwin Wickert: Abenteurer zwischen den Welten“ sei ein „unglaublich gut recherchiertes Buch“, freut sich der ehemalige Fernsehjournalist über die Neuerscheinung. „Mein Vater hatte einen großen Einfluß auf mich“, gesteht er. Er habe ihm eine gesunde Portion Selbstbewußtsein mitgegeben und beigebracht, selbständig zu denken.

Auch für den Autoren Kulke war der 2006 verstorbene Diplomat Wickert eine Ausnahmeerscheinung. „Er war ein Jahrhundertmann“, attestiert ihm der ehemalige Welt- und vormalige taz-Redakteur. Der Diplomat habe das 20. Jahrhundert nicht nur erlebt, sondern auch überlebt.

Der Gesandte hatte in seinem ereignisreichen Leben in zahlreichen Ländern Station gemacht. Dazu zählten China und Japan ebenso wie Rumänien und Frankreich. Verdienste hat er sich während seiner diplomatischen Laufbahn insbesondere mit der „Friedensnote“ erworben, die er seinem Sohn zufolge in der Garage seines Hauses verfaßt haben soll. Das Dokument gilt als Grundstein der späteren Öffnung Westdeutschlands in Richtung Osten. „Die neue Ostpolitik der Bundesrepublik begann nicht mit Willy Brandt, sondern mit Erwin Wickert“, unterstreicht Kulke in diesem Zusammenhang. Der zur Buchpräsentation anwesende Historiker Daniel Koerfer gießt allerdings etwas Wasser in den Wein. Denn auch Erwin Wickert habe wie viele seiner Zeitgenossen ein NSDAP-Parteibuch besessen. „Und eine NS-Parteimitgliedschaft ist für Journalisten heutzutage ein Todesurteil“, mahnt er. Koerfer spricht von unangemessenen „Pauschalisierungen“ in der modernen deutschen Medienöffentlichkeit. Bücher wie die neue Wickert-Biographie von Kulke seien inzwischen eine echte Seltenheit. Niemand habe mehr den Mut, sich auch mit den moralischen Graustufen in der Zeit des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Gerade deshalb sei die Neuerscheinung so bedeutsam.

Am Schluß erinnert der Historiker die versammelten Gäste noch an eine Anekdote über den Reichskanzler Otto von Bismarck. Bei diesem soll sich die Frau eines ausländischen Botschafters einst über die Tücken der deutschen Sprache beschwert haben. So hätten viele Wörter eine ähnliche, geradezu kaum unterscheidbare Bedeutung. Als Beispiele nannte sie die Begriffe „geschickt“ und „gesandt“.

Der eiserne Kanzler antwortete der Legende nach, indem er auf ihren Mann verwies. Dieser sei zwar ein Gesandter, aber durchaus nicht geschickt. „Erwin Wickert auf der anderen Seite war für mich als Diplomat sowohl ein Geschickter als auch ein Gesandter“, beschließt Koerfer seinen Gedankengang mit einem Lächeln. Eine historische Persönlichkeit, die es wert ist, neu entdeckt zu werden. 

Ulli Kulke: Erwin Wickert. Abenteurer zwischen den Welten – Ein Leben als Diplomat und Schriftsteller, Verlag Langen-Müller, München 2021, gebunden, 400 Seiten, Abbildungen, 25 Euro

Foto: Erwin und Ingeborg Wickert mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Oktober 1979: Niemand beschäftigt sich heute mit moralischen Graustufen in der Zeit des Nationalsozialismus