© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

„Gute Zäune machen gute Nachbarn“
Der Journalist Eberhard Sens sucht nach verschiedenen Gegenwarten in den letzten vier Jahrzehnten
Felix Dirsch

Eberhard Sens ist einem größeren Publikum als Rundfunk-Redakteur (SFB/RBB) bekannt geworden. In dieser Position mußte er für die Vermittlung von Wissen sorgen, das allgemeinverständlich ist. Daneben hat sich der umtriebige Journalist, der wie viele aus seiner Alterskohorte durch den Umbruch von 1968 geprägt ist, mit anspruchsvollen wissenschaftlichen Themen beschäftigt.

Zwanzig Essays beleuchten dieses Interessenfeld näher. Sie sind im Zeitraum von 1981 bis 2021 an unterschiedlichen Publikationsorten erschienen. Die Themenbereiche (planetarische Perspektive, Komplexität, soziale Systeme, Kontingenz, Musik, kosmische Katastrophen, Parapsychologie, Bürgerkriege und Medien) muten sehr verschieden an, lassen aber durchaus einen roten Faden erkennen. Rüdiger Safranski schließt diesen Reigen mit einem Nachwort ab.

Alle Beiträge drehen sich um die vielschichtige Problematik der technischen Moderne und dem damit aufs engste verbundenen Bereich der Rationalität. Deren Analyse steht sogar dann im Mittelpunkt, wenn der Autor auf Zusammenhänge eingeht, die mit dem offenkundigen Gegenteil zu tun haben, etwa der Parapsychologie oder der charismatischen Legitimation als Widerlager zum kühlen administrativen Legalismus. Gleiches gilt für Überlegungen zur aktuellen Lesart eines Zitats von Gottfried Benn („Rönnes Fluch“), der dem Pathos des rational-wissenschaftlichen Glaubens stets mit kritischer Distanz gegenüberstand.

Maßnahmen-Konformismus bei Sloterdijk und Habermas 

Der Betrachter des wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Zeitgeschehens unterliegt zwangsläufig den konjunkturellen Launen des Betriebes. Das am Anfang der Textsammlung erörterte „Syndrom der Unregierbarkeit“ verweist auf die frühen 1980er Jahre. Damals drohten im Zusammenhang mit der Nato-Nachrüstung die Gegner der Stationierung von US-Raketen in Europa, weitreichende Politikmechanismen lahmzulegen, etwa durch Blockaden an Schlüsselorten politischen Handelns. 

Vor allem dem umfangreichen Werk von Niklas Luhmann ist es zu verdanken, daß Begriffe wie Komplexität, Systemrationalität und Funktionalismus über die Systemtheorie hinaus Resonanz gefunden haben – und das gerade zu einem Zeitpunkt, als die Anziehungskraft der Frankfurter Schule langsam nachgelassen hat. Weiter widmet sich Sens dem Schaffen zweier schon vor vierzig Jahren dominanter Figuren der intellektuellen Szene: Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas. Beide Protagonisten ihres Faches sind zwar inzwischen in die Jahre gekommen, aber selbst noch in Corona-Zeiten ist ihre Expertise gefragt. Sie fällt aufgrund ihres ostentativen Maßnahmen-Konformismus freilich enttäuschend aus. Seinerzeit sind beide noch innovativer: Sloterdijk verfaßt mit seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ ein philosophisches Jahrhundertbuch, ebenso wie Habermas mit der epochalen Schrift „Theorie des kommunikativen Handelns“. Es folgte Jahre später die Abhandlung „Der philosophische Diskurs der Moderne“, die Sens erörtert.

Betrachtungen über das „Wiederfinden der Musik“ und die „unterbrochenen Musikstunden“ verschaffen bei der linearen Lektüre ein wenig Entspannung. Dann rücken mit Thomas Hobbes, Max Weber und Ayn Rand wieder Aspekte neuzeitlichen Nachdenkens über politisch-gesellschaftliche wie ökonomisch-libertäre Rationalität in den Fokus der Aufmerksamkeit. Auch Hinweise zur Problematik der neuen Kriege fehlen nicht. Linien der sich entzaubernden Moderne als „stählernes Gehäuse“ und als maschinenähnlicher Funktionalismus hätten sich noch bis hin zur künstlichen Intelligenz ausziehen lassen.

So weit geht Sens dann doch nicht. Seine Analysen enden mit der großen Zäsur der unmittelbaren Gegenwart: Diese läßt sich nicht nur mit „Corona“ umschreiben, sondern weiter mit der gestiegenen Bedeutung von Grenzen. Schon der Dichter Robert Frost kannte eine heute wieder hoch aktuelle Weisheit: „Gute Zäune machen gute Nachbarn“. Es ist wohl kein Zufall, daß Frost US-Bürger war, kein Deutscher.

Eberhard Sens: Liebe deinen Nachbarn, aber laß den Zaun stehn. Essays zu Politik, Philosophie und Gesellschaft. Verlag bei Schmitz, Berlin 2021, gebunden, 302 Seiten, 20 Euro