© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Grundpfeiler unserer Medizin
Die notwendigen Tierversuche finden an der Universität Bern nicht in „Gruselkabinetten“ statt
Christoph Keller

Die Volksinitiative „Ja zum Verbot von Tier- und Menschenversuchen“ ist krachend gescheitert: Nur 20,9 Prozent der Schweizer, die an der Abstimmung am 13. Februar teilnahmen, sprachen sich dafür aus, das Tierversuchsverbot in der eidgenössischen Bundesverfassung zu verankern. Eine ähnliche Volksabstimmung 1993 hatte immerhin 27,8 Prozent überzeugt. Damit ist verhindert worden, was Christian Leumann, Rektor der Universität Bern, im Vorfeld des Referendums als GAU für den Wissenschaftsstandort Schweiz an die Wand gemalt hat: den Ausstieg aus dem internationalen Netzwerk medizinisch-pharmazeutischer Forschung, ohne damit den geringsten Effekt für mehr Tierwohl erzielen zu können.

Aber anders als die Deutschen, die sich panisch von Atomkraft und Kohle verabschieden, haben sich die Eidgenossen einen realistischen Sinn für Zweck-Mittel-Relationen bewahrt: Der Fortschritt der Wissenschaft vollziehe sich im globalen Rahmen. Was außer dem Verlust ihrer Spitzenposition in der biomedizinischen Grundlagenforschung, so fragt der 63jährige Chemieprofessor, „bringt das der Schweiz, sich diesem Netzwerk zu entziehen?“ Offenkundig nur Nachteile, da nach niedrigeren medizinisch-technischen und ethischen Standards verfahrende Konkurrenten die so entstehende Lücke umgehend füllen würden.

Die Berner Mediziner starteten daher eine Aufklärungsoffensive, um über die an einem Dutzend Kliniken, Instituten und Laboren stattfindenden Tierversuche zu informieren (Unipress Bern, 181/21). Leumann und seine Kollegen gehen dabei vom Faktum aus, „daß die meisten Errungenschaften der heutigen Medizin nur unter Einbezug von Tierversuchen ermöglicht wurden“. Daran ändere sich auch in Zukunft wenig – bei Krebs, Kreislauferkrankungen, Infektionen, Demenz oder Diabetes besteht unverändert Forschungsbedarf.

Daher seien zumindest jene Tierversuche, für die es keine Alternativmethoden gebe, ethisch gerechtfertigt. Zumal sie sich seit den 1960ern streng an den 3R-Prinzipien orientieren: „Replace, Reduce, Refine“. Tierversuche sollen möglichst ersetzt, verringert oder verbessert werden. Was in der klassischen Toxikologie, die heute tierversuchsfrei ist, ebenso gut gelang wie in dem Segment der Pharmaforschung, das per Gesetz gezwungen worden sei, für die Entwicklung neuer Kosmetikartikel keine Tiere mehr zu verwenden. Trotzdem stoße die Umsetzung des 3R-Prinzips an Grenzen. So ließen sich, wie der Chirurgieprofessor Daniel Candinas (Inselspital Bern) klarstellt, mit Organoiden, aus Zellgewebe gezüchteten organartigen Strukturen, zwar genauere Einblicke in biologische Mechanismen gewinnen oder Medikamente testen.

Wer indes ein komplexes biologisches System untersuchen will, in dem es um Interaktionen und Steuerungsmechanismen geht, komme nicht daran vorbei, dies im intakten Tierorganismus zu tun. Es sei keine gute Idee, darauf zu verzichten und etwa eine Herzklappe direkt am Menschen zu erproben. Dementsprechend taugen auch künstliche Intelligenz und mathematische Modelle bisher nur für „gewisse Simulationen“. Wie ein Therapeutikum überhaupt an den richtigen Wirkungsort im Körper gelangt, wie viele andere Organe wie stark betroffen sind und welche potentiellen Nebenwirkungen ein Medikament hat, „das alles können wir heute nicht modellieren“.

Forschung zur Regeneration von Herzmuskelzellen und Gefäßen

Wo in Berner Laboren also weiterhin mit Tieren experimentiert wird, da sollte man sich die Umstände nicht als „Gruselkabinett“ vorstellen, wie dies der Öffentlichkeit in der Propaganda der gescheiterten Volksinitiative und anderer Tierschutzorganisationen suggeriert werde. Gemessen am Schweregrad der Versuche ergab sich für 2020 für 46 Prozent der Berner Versuchstiere keine, für 30 Prozent eine leichte, für 20 Prozent eine mittlere und lediglich für drei Prozent eine schwere Belastung.

Wie man sich eine solche maximale, mit dem Tod des Versuchstiers endende Belastung vorzustellen hat, schildert der ausführliche Bericht über die Operation des Zuchtschweins „Rosi“. Wie seine Artgenossen diente es dem Team um Robert Riesen, Leiter der Gruppe Herz und Gefäße am Department für BioMedical Research (DBMR Bern), zur Lösung des Problems, wie bei einem Unfall abgetrennte Gliedmaßen gerettet werden können. Als Modell für menschliche Körper eignen sich Schweine besonders gut, wird doch auch ihr Bein wie das menschliche hauptsächlich von einer großen Arterie und zwei Venen durchblutet, so daß es nach der Replantation sehr ähnlich reagiert.

Zudem entspricht das kardiovaskuläre System eines drei Monate alten, 40 Kilogramm schweren Zuchtschweins dem des erwachsenen Menschen mit Normalgewicht. Um die Unfallsituation so realistisch wie möglich zu simulieren, wird „Rosi“ – von der Anästhesiologin Daniela Casoni für diesen Eingriff vorbereitet und überwacht wie ein Mensch – ein Bein amputiert. Am nächsten Tag wird das Bein wieder angenäht, um die Schäden bei der Wiederdurchströmung der Blutgefäße zu erkennen. Das erlaubt Rückschlüsse für menschliche Gliedmaßen. Anschließend schläfert Casoni ihren „Patienten“ ein und kommentiert ihr „Akutexperiment“: „Der Tod im Rahmen dieser Experimente dürfte für die Tiere wesentlich weniger Streß bedeuten als ein Lebensende im Schlachthof.“

Schweine, Rinder, Schafe, Pferde, Ziegen und Katzen gehörten 2020 mit einem Anteil von 5,7 Prozent zur Gruppe von Tieren, die in Bern am wenigsten experimentell beansprucht werden. Die von Am häufigsten wurde wie gewohnt auf Mäuse (55 Prozent), Fische (15,5), Geflügel (12,8), Hunde (7,3) und Ratten (3,7) zurückgegriffen. So studierte Nadia Huber (Institut für Anatomie) an Zebrafischen, die die meisten Gene mit dem Menschen teilen, die Regeneration von Herzmuskelzellen. Sie sterben beim Menschen nach akuten Herzinfarkten millionenfach ab, so daß sich der Herzmuskel nur schlecht erholt, während sich die Herzmuskelzellen des Zebrafisches nach einer Verwundung rasch regenerieren. Die an diesem Versuchstier gewonnenen Erkenntnisse könnten daher wesentlich dazu beitragen, um beim Menschen einen ähnlichen Reparaturprozeß anzustoßen.

Verzichten kann die Professorin für Regeneration auf diese Versuchstiere genausowenig wie ihr Kollege Andrew Macpherson (Darmzentrum Bern) auf seine „keimfreien Mäuse“ Der Experte für das menschliche Mikrobiom, also für die 39 Billionen Mikroorganismen, die beim Menschen den unteren Darmbereich besiedeln, studiert an ihnen, die „leicht“ oder „unbelastet“ in seinem Labor sterben, das Wechselspiel zwischen Wirt und Mikroben, das für das Verständnis von Immunreaktionen, entzündlichen Darmkrankheiten, aber auch von psychischen und neurologischen Erkrankungen aufschlußreich ist.

Etwas Wasser in den Wein des Berner Tierversuchsbetriebs schüttet nur die Juristin Charlotte Blattner (Institut für Öffentliches Recht). Trotz der 3R-Regel, so merkt sie kritisch an, sei die Zahl der weltweit gebrauchten Versuchstiere seit den 1960ern kaum gesunken. Und die Forschungen zu Sars-CoV-2 hätten die Nachfrage jetzt sogar explodieren lassen. Paradoxerweise, denn die Virenforschung müßte kein Treiber des Tierexperiments sein, wenn die Politik endlich eine mutmaßliche Hauptursache der Corona- und weiterer zu erwartender Pandemien liquidiere – den Wildtierhandel.

Aktuelles Themenheft „Tierversuche – 25 Fragen – 25 Antworten“ (Unipress Bern, 181/21):

 www.unibe.ch

 tierversuchsverbot.ch

Foto: Labormaus: Weniger Streß am Lebensende als eine Kuh oder ein Schwein im Schlachthof