© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Leserbriefe

Zum Schwerpunktthema: „Flucht nach Westen“, JF 11/22

Zwei Kriege in der Ukraine: Eine Reflexion

Als 1941 die Wehrmacht in die Ukraine einrückte war auch der Reichsarbeitsdienst dabei. Ihre Aufgabe war, den Vormarsch durch Erbauung von Holzbrücken zu unterstützen. Im November 1941 erübrigte sich ihr Einsatz, wegen der Kälteperiode ist die Abteilung zurück in ihre Standorte gekommen. Alle Offiziere haben eine Ukrainerin als Dienstmädchen mitgebracht. Nachdem ich als Hallenser nach Bad Kösen ins KLV (Kinderlandverschickungslager) kam, war ich glücklich nach Artern von meinem Onkel aufgenommen zu werden. Mein Onkel, im Range eines Oberfeldmeisters, hat oft erzählt, er konnte sich aussuchen, für wen er sich entschied. So kam Sonja, so hieß das 18jährige Dienstmädchen, in dem Zimmer unter, wo früher auch das deutsche Dienstmädchen schlief. Bald legte sie ihre Holzpantoffel ab und ging sonntags mit Stöckelabsätzen mit mir und meinen drei Cousins spazieren. 

Historisch interessiert, habe ich mich mit dem Problem Zwangsarbeiter (damals Fremdarbeiter) beschäftigt. Sonja hat uns versprochen, nach ihrer Ankunft in der Heimat zu schreiben. Von vielen anderen Fällen ist mir dies auch bekannt. Nie hat jemand ein Lebenszeichen von ihren ehemaligen sowjetischen Kollegen erhalten. Stalin hat alle Rückkehrer durch Filtrierlager geleitet, die meisten sind sofort erschossen worden oder sind im Gulag gelandet. Vor Jahren habe ich viel recherchiert, um den weiteren Lebenslauf von Sonja zu erfahren, leider ohne Erfolg. Für die Liebe, die Sonja uns Kindern schenkte, konnte ich mich nie revanchieren. Durch diese Lebenserfahrungen versuche ich die Lage der leidgeprüften Ukrainer zu verstehen.

Peter Conrad, Weißenbrunn






Zu: „Nicht einsatzfähig“ / „Wer macht und wer macht mit?“ von Peter Möller, JF 11/22 

Wirkliche Probleme wurden ausgeblendet

Kanzler Scholz hat doch tatsächlich Führungskraft bewiesen, und dies ausgerechnet zum Thema Bundeswehr und Ausrüstung. Vor ziemlich brüskierten Grünen und Genossen sprach er von einem Sondervermögen von 100 Milliarden und der Erfüllung der zwei Prozent des Bruttosozialproduktes für Rüstungsausgaben. Wieder einmal, seit dem ersten Kriegseinsatz während des Krieges auf dem Balkan, muß die selbsternannte Friedenspartei diese Kröte schlucken. Diese Regierung wurde aus ihrem romantischen Glauben gerissen, daß – würde nur geredet – es keinen Krieg gebe. Doch schon ist ein Grummeln aus der Ecke der alten Sozialdemokraten zu hören. Leider hat manch Verehrer des lupenreinen Demokraten noch nicht erkannt, daß im Osten ein alter KGB-Agent sitzt, der bereits vor Jahren nachdrücklich das Ende der UdSSR bedauerte, die er nun offensichtlich weitgehend wiederherstellen will. 

Dem steht eine heruntergewirtschaftete Bundeswehr gegenüber. Dies hat nicht zuletzt mit dem ambivalenten Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee zu tun. Sie waren Helden, Mörder, Vaterlandsverteidiger, Retter, Militaristen und Friedensbewahrer. Vor dreißig Jahren wurde die Legende vom anständigen Soldaten der Wehrmacht zerstört. Unter von der Leyen wurden die Kasernen durchforstet, ob denn nicht noch ein alter Wehrmachtshelm zu finden sei. Dann erschienen Typen vom Schlage Franco, die als Verehrer der Wehrmacht und SS enttarnt wurden. Die Bundeswehr stand sofort wieder unter Generalverdacht. Doch die wirklichen Probleme wurden ausgeblendet: So vermißten die Heimkehrer aus dem Afghanistan-Krieg die gesellschaftliche Anerkennung für ihren Einsatz und für ihren Beruf, mit dem sie ja angeblich unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt hatten. Ebenso ausgeblendet wurden militärtechnische Probleme. Wie sehr den Soldaten das Selbstverständnis sowie die Anteilnahme in der Heimat fehlten, offenbarte sich letztes Jahr, als die Rückkehrer zunächst nur still und heimlich empfangen werden sollten. Auch hat es eine Ewigkeit gedauert, bis der Krieg Krieg genannt werden durfte. Selbst in internen Zeitschriften wurde über alles berichtet, nur nicht über das militärische Geschehen in Afghanistan. Spätestens jetzt, da der Kriegsherr im Kreml die Revision der europäischen Sicherheitsbündnisse der letzten Jahrzehnte anstrebt, sollten die Altsozis und Altlinken endlich ihre Scheuklappen ablegen und in der Realität ankommen – mit einem klaren Ja zur Wehrfähigkeit und Bündnisfähigkeit der Bundeswehr. Helmut Schmidt wäre hier ein Vorbild.

Markus Speer, Pforzheim






Zu: Peking als lachender Dritter, JF; NR. 11/22 

Putins Gesicht, oder: Der Mann ist krank

Vor mehr als 50 Jahren schrieben die Wissenschaftler vom „Club of Rome“: „ Heute ist China der kleine Bruder der Sowjetunion, im Jahr 2000 wird es umgekehrt sein.“ Unter den Exportnationen steht heute China auf Platz Eins, Rußland nimmt Platz 16 ein. China hat 1,4 Milliarden Einwohner, also zehnmal so viel wie Rußland. EU, USA und Rußland zusammen kommen auf knapp eine Milliarde Menschen. Nicht zu vergessen, da gibt es in Asien noch einen weiteren Giganten mit 1,4 Milliarden, Indien. Wenn Rußland, Europa und die USA nicht zum Spielball dieser Giganten werden wollen, müssen sie zueinanderfinden und nicht gegeneinander arbeiten.     

Dr. Karl Albert Hahn, Bad Salzungen






Zu: „Magische Abwehrrituale“ von Thorsten Hinz, JF 11/22

Scheinheilige Motive des Westens

Kompliment, dies ist ein brillanter Kommentar über die antirussischen Affekte, mit denen sich der aufgeklärte Europäer auf der guten Seite wähnt. Gleich vorweg: Erschütternd ist das Leid der Menschen in der Ukraine. Vertrieben, verletzt, getötet. Ich weiß, wovon ich schreibe: Meine Mutter flüchtete mit mir 1945 aus Schlesien vor den Sowjettruppen. Ja, dieser Krieg sei verflucht. Erschütternd ist jedoch auch die Berichterstattung in unseren Medien. Das Gros scheint sich offenbar ziemlich einig: Immer drauf auf Putin und die Russen. Sie sind der böse Osten, der Westen dagegen die Inkarnation des Guten und Edlen. Pure Heuchelei! Zugegeben, Putin ist Kriegstreiber. Fakt ist aber auch, daß amerikanische Politiker und deren Geheimdienste psychologische Kriegstreiber sind. Bewiesenermaßen hat die Weltmacht USA (mit dem größten Militärhaushalt) immer wieder gezündelt und weltweit Leid und Zerstörung verursacht: so im Irak und Iran, in Syrien und Afghanistan, in Libyen und Vietnam.

Peter Hain, Bad Dürkheim






Zum Schwerpunktthema: „Der Krieg ist zurück“, JF 10/22

Enttäuschend: der deutsche Michel

Die Beiträge und Kommentare von Dieter Stein, Michael Paulwitz, Christian Vollradt und Martin Wagener und Thomas Fasbender in dieser Ausgabe überzeugen mit hohem Sach- und gesundem Menschenverstand. Ich wünschte mir in vielen Redaktionen und vor allem im Deutschen Bundestag wären viel mehr solcher kompetenten Wortmeldungen zu hören. Leider haben sich aber der deutsche Michel und die jungen Deutschen mit ihrem großen Fachwissen respektive ihrer großen Lebenserfahrung rot-grüne Träumer, Spinner und sogar einen als Frau verkleideten Mann dorthin gewählt. Viel Vernünftiges ist da nicht zu erwarten.

Hans-Jürgen Bürger, Hettstedt




Unterbelichtete Nato-Geschichte

Mir fehlt in Ihrer Berichterstattung die Beleuchtung der jüngsten Nato-Geschichte. Warum hat Putin in seinen Reden zur Erklärung zum militärischen Vorgehen unter anderem ausdrücklich Jugoslawien, den Irak, Libyen und Syrien erwähnt? Ich denke, es ging ihm darum, deutlich zu machen, daß es sich bei der Nato im Kern keineswegs um ein Verteidigungsbündnis handelt, sondern ein Bündnis, das seine Interessen auf eine hochaggressive und rücksichtslose Weise durchsetzt. Zugegeben: Es hat selten eine perfektere Verkleidung des Wolfes im Schafspelz gegeben, wie im Falle von USA/Nato, alles mit Hilfe eines nahezu geschlossenen Systems von „Presstitutes“, wie Paul C. Roberts sie gerne und zutreffend bezeichnet. Aber das ist kein ausreichender Grund, darauf hereinzufallen. Was nun in der Ukraine passiert, ist schrecklich, aber das war es auch für die 14.000 Toten im Donbass seit 2014, die offenbar niemanden interessiert haben, für 20.000 Tote in Jugoslawien, für 650.000 Tote im Irak oder für 120.000 Tote in Libyen. Die USA haben im Vorderen Orient eine Strategie der Zerstörung durchgesetzt. Das kann man nicht nur wissen, das muß man wissen. Ebenso die Verankerung der teils in nationalsozialistischer Tradition stehenden Azow-Brigaden in der regulären ukrainischen Armee, und ihre Angriffe auf den Donbass. Wenn man die Geschichte mit dem 24. Februar 2022 beginnen lassen will, dann ist Putin der Aggressor. Dann unterschlägt man aber den gesamten Vorlauf, etwa die Rede von Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz des Jahres 2007.

Prof. Dr. phil. Werner Leuthäusser, Paderborn




Achtsamkeit, oder: Völker, hört die Signale

In „Achtsamkeit“, mithin in acht Stichpunkten, ließe sich die aktuelle Situation – knapp 100 Jahre nach dem Rapallo-Vertrag – zusammenfassen. Erstens (ohne Anführungszeichen): Ein großer Erfolg der amerikanischen Europa-/Rußland-Politik. Zweitens: Eine echte politische Katastrophe für Europa. Drittens: Eine Niederlage der deutschen Diplomatie – Konsequenz aus Unerfahrenheit, Prinzipienreiterei und westlicher Konsensgebundenheit. Angeblich wurden Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock belogen – das ist eine Interpretation. Plausibler ist, daß sie nicht zugehört haben und ihr Gegenüber nicht ernst genommen haben. Viertens: Aus Sicht der Russen war es, da es keine Garantie dafür gab, daß die Ukraine nicht eines Tages doch zur Nato gehören wird, konsequent zu sagen: Eingreifen, jetzt oder nie! Fünftens: Die Amerikaner haben Putin jetzt genau da, wo sie ihn haben wollen, endgültig in der Ecke des ultimativ Bösen und Kriegsverbrechers. Er ist ihnen in die Falle gegangen. Sechstens: In Sachen Corona kaprizierte sich die Politik mehrheitlich auf den Vorrang des Lebens vor den Grund- und Freiheitsrechten. Das ist hinsichtlich der Ukraine nun offenbar anders: Freiheit geht vor Menschenleben. Siebentens: Nahm die Eskalation, die in den Krieg führte, nicht erst (im zeitlichen Zusammenhang) mit den Regierungswechseln in Washington und Berlin so richtig Fahrt auf? Der erneute Übergang der Grünen von der Öko- zur Kriegspartei. Eben noch Ausstieg aus Gas und Kohle, jetzt Gasgeben bei der Rüstung. Achtens: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses sei unverhandelbar, so war zu hören. Nicht, daß ich etwas dagegen hätte, aber hatte man uns nicht eben eingeimpft, daß Völker Konstrukte seien, und wer das anders sehe, sei völkisch? Am ehesten ist wohl die ukrainische Nation ein Konstrukt.

Bernd Apel, Hamburg




Seeblockade gegen den Oblast Kaliningrad

Wie wäre es mit einer Blockade von Nordostpreußen (Oblast Kaliningrad)? Mich wundert, warum diese Option nicht einmal erwogen wird! Da die Nato so sehr besorgt ist, keine Grenzverletzungen zuzulassen, wäre dies doch ein wirksames Druckmittel gegen Putin, ohne daß eine Landesgrenze überschritten werden müßte. Diese Kriegsbeute der Sowjetunion hat seit deren Auflösung keine Landverbindung mehr zur Russischen Föderation und ist vom Nato-Gebiet (Litauen/Polen) umschlossen. Einziger Zugang ist die Ostsee. Eine Seeblockade wäre da doch eine wirksame Maßnahme! Dies böte zugleich den Vorteil, diese vorgeschobene Operationsbasis – für zum Beispiel Iskander-Raketen – intensiver zu überwachen!

Kurt D. Wachsmuth, Meckenheim




Atavistische Machtpolitik

Dieser Text befaßt sich in realpolitischer Weise mit der Frage, wie man mit dem Machthaber Putin umgehen sollte. Aber der Ausgangspunkt der Überlegungen scheint zu sein, daß der Autor die „Realitätsanalyse“ des russischen Diktators teilt. Das läßt die folgenden Ausführungen aber zweifelhaft erscheinen. Denn eine langfristig tragfähige Lösung kann es nur geben, wenn eine russische Führung zu einer realitätsnahen Deutung der Entwicklung seit 1990 findet. Rußland war nicht „Verlierer des Kalten Krieges“. Denn dessen Ende hat an der konventionellen Überlegenheit der dann „Rußländischen Föderation“ und an dem „Gleichgewicht des Schreckens“ nichts geändert und ihr eine völlig eigenständige Entwicklung zugestanden, für deren Verlauf allein Rußland selbst verantwortlich ist: ökonomisch, gesellschaftspolitisch, kulturell.Wageners am Begriff des „Sicherheitsbedürfnisses“ orientierte Argumentation verläuft so, als wäre es 1990 ff. als Strafe für die sowjetische Ära zu einer à la Versailles erzwungenen Demilitarisierung der Sowjetunion gekommen – mit der Folge von deren Zerfall. Doch dieses Narrativ vom „Sicherheitsbedürfnis“ bedient vielmehr die irrationale Sphäre, in der der russische Diktator gefangen ist. Tatsächlich nahm der Westen Rußland in Folge der Gorbatschowschen Politik als Teil der rationalen Sphäre internationaler Politik wahr und fühlte sich nicht mehr von einer „Weltrevolution“ bedroht – mit Ausnahme ehemaliger Ostblockstaaten, die mißtrauisch blieben und aus rein eigenem Antrieb zum „neuen Europa“ wurden. Der Westen hat die ostmitteleuropäischen Staaten lediglich nicht vor den Kopf gestoßen. Putin gehört dem Typus des territorial-fixierten Machtpolitikers an, der im 21. Jahrhundert atavistisch ist. Ein Mann, der zerstört, was er vorgibt zu lieben.

Axel Gerold,  Altwarp