© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Der Flaneur
Mit und ohne Maske
Paul Leonhard

Als der Lautsprecher die Einfahrt des Zuges im Grenzbahnhof ankündigt, erscheint plötzlich ein Dutzend Bundespolizisten. Breitbeinig nehmen sie Aufstellung. Nervös taste ich nach meinem Impfschein. Derartige Kontrollen habe ich schon öfters erlebt. Aber diesmal geht es nicht um Gesundheitsnachweise. Das begreife ich, als ich in den Triebwagen einsteige. Der ist voller Menschen, die nach einer durchwachten Nacht aussehen: Frauen mittleren Alters und solche mit Kindern, ein paar Greise – Flüchtlinge aus der Ukraine.

Mit sicherem Blick Deutsche, Polen und Ukrainer unterscheidend, beginnen die Blauuniformierten zu kontrollieren, Fragen nach dem Wohin zu stellen: Mannheim, Stuttgart, Düsseldorf, Hannover, Leipzig lauten die mitunter schwer zu verstehenden Antworten. Die Frau am Gang will zu ihrem Bruder nach Heidelberg. Der Beamte nickt und gibt ihr den Paß zurück. Die alte Frau ihr gegenüber schaut nur ängstlich. Ob sie zusammen unterwegs sind, will der Polizist wissen. Die Jüngere macht eine Armbewegung, die alles bedeuten kann. Sie weiß ja nicht, welche Folgen ein Ja oder Nein hat.

Die Alte ist erstarrt, ihre Reisegesellschaft, in der sie sich gerade noch sicher fühlte, zerbrochen.

Die alte Frau muß den Zug verlassen. Sie brauche keine Angst zu haben, sagt der Polizist. Man nehme sie nur mit aufs Revier, um ihre Daten zu erfassen, dann könne sie weiterfahren. Die Alte ist erstarrt, ihre Reisegesellschaft, in der sie sich gerade noch sicher fühlte, zerbrochen. Sie läßt sich aufhelfen und auf den Bahnsteig führen. Ein anderer trägt ihr den kleinen Stoffbeutel mit ihrem Hab und Gut nach.

Dann rufen die Beamten nach Max. Ein großer Polizist erscheint, offenbar der einzige, der Russisch spricht. Es gibt Probleme mit einer Familie, die schließlich den Zug verlassen muß. Längst maulen die deutschen Fahrgäste. Sie haben Angst um ihre Anschlüsse in Dresden und verstehen nicht, warum sie Masken tragen müssen und die Ukrainer nicht. Sie sollten lieber Mund-Nase-Bedeckungen verteilen, als die Leute zu belästigen, sagt einer vorlaut, um schnell kleinlaut zu werden, als der Beamte ihn der Behinderung einer polizeilichen Maßnahme bezichtigt. Dann schließen sich die Türen, der Zug fährt ab. Auf dem Bahnsteig bleiben Polizisten und weinende Menschen zurück.