© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Selbst entscheiden lassen
Corona: Die Politik sollte endlich auf individuelle Handlungsfreiheit setzen
Ulrich van Suntum

Zugegeben, die aktuelle Corona-Situation ist unübersichtlich: Einerseits erreichte die 7-Tage-Inzidenz immer neue Höchstwerte. Bundesweit lag sie zuletzt bei 1.733, das heißt, rund 1,7 Prozent der Einwohner haben sich allein in den letzten sieben Tagen neu infiziert. Zum Vergleich: Noch vor einem guten halben Jahr galt bereits ein regionaler Inzidenzwert von lediglich 50 als Schwellenwert für zusätzliche Corona-Einschränkungen. 

Insoweit haben wir es tatsächlich mit einem dramatischen Anstieg der Infektionszahlen zu tun. Dies ist hauptsächlich der neuen, wesentlich ansteckenderen Omikron-Variante des Virus geschuldet. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) macht sie inzwischen mehr als 99 Prozent aller Infektionen aus. Dabei scheint die neueste Subvariante BA.2 nochmals deutlich ansteckender zu sein – praktisch jeder kennt derzeit jemanden aus seinem persönlichen Umfeld, der in Covid-Quarantäne ist.

Andererseits – und zum Glück – verursachen die neuen Varianten in aller Regel nur noch leichte Symptome, wenn überhaupt. Die Hausärzte können inzwischen ohne Test kaum noch sagen, ob der Patient an Covid-19 erkrankt oder einfach nur erkältet ist. Das Coronavirus hat damit viel von seinem anfänglichen Schrecken verloren. 

Das zeigt sich auch in der Hospitalisierungsrate, also der Zahl ins Krankenhaus eingewiesener Covid-Patienten pro 100.000 Einwohner. Sie liegt derzeit trotz der rasant gestiegenen Infektionszahlen mit 7,1 nur halb so hoch wie zur Weihnachtszeit 2020, als sie ihren bisherigen Höchstwert erreichte. Ein ähnliches Bild zeigen die vom RKI ausgewiesenen Covid-19-Sterbezahlen: Waren es auf dem Höhepunkt der Pandemie um die Jahreswende 2020/21 noch fast 6.000 Fälle pro Woche, so liegen sie mit zuletzt 1.225 inzwischen nur noch bei rund einem Fünftel. 

In dieser Situation sollte man von der Politik klare Entscheidungen erwarten. Kann und will man Corona künftig wie eine normale Grippewelle behandeln? Oder hält man das Virus weiterhin für so gefährlich, daß seine Bekämpfung möglicherweise dauerhafte Eingriffe in die Grundrechte der Bürger rechtfertigt? Beide Ansichten kann man vertreten, aber man kann sie nicht beide gleichzeitig verfolgen. Die Ampelregierung gibt darauf jedenfalls keine klare Antwort. Einerseits beschwört ihr Gesundheitsminister weiterhin apokalyptische Gefahren. Andererseits schafft er mit dem neuen Infektionsschutzgesetz aber viele Instrumente ab, mit denen diesen Gefahren bisher begegnet wurde. Dazu gehört neben den Kontaktbeschränkungen und „XG+“-Regeln auch die Maskenpflicht in Innenräumen. Dabei war dies neben der Impfung die wirksamste und zugleich einfachste Schutzmaßnahme. 

Die Opposition lehnt das neue Infektionsschutzgesetz zwar einhellig ab, jedoch aus ganz unterschiedlichen Gründen. So wollen CDU und Linke lieber weiter im „Team Vorsicht“ spielen. Der AfD sind dagegen auch die verbleibenden Eingriffsmöglichkeiten noch zu weitgehend. Dahinter stehen ganz grundsätzliche Weltanschauungen. Denn allein auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse lassen sich solche Entscheidungen nicht treffen. 

Es geht ja nicht nur um nackte Zahlen und Fakten, sondern notwendigerweise auch um Wertungen: Wie weit darf – beziehungsweise muß ich vielleicht sogar – dem Bürger erlauben, sich durch sein Verhalten selbst zu schaden?  Kann ich überhaupt beurteilen, was für andere Menschen gut oder schlecht ist? Ist wirklich jeder Corona- (oder auch Verkehrs-)Tote einer zuviel? Oder sind die verbleibenden Risiken in Kauf zu nehmen? Sind sie nicht sogar der Preis dafür, in einer unvollkommenen Welt überhaupt noch individuelle Freiheit und Selbstverantwortung aufrechtzuerhalten?

Diese Fragen gehen weit über Corona hinaus. Was aber die aktuelle Pandemie-Situation betrifft, so spricht derzeit vieles für Team Freiheit. 

Lauterbachs polemischer Ausruf, man könne nicht ein ganzes Land zum Schutz der unvernünftigen Impfverweigerer in Geiselhaft nehmen, stellt die Dinge auf den Kopf. Denn die Gegner der Corona-Impfung wollen ja gerade nicht gegen ihren Willen von jemandem geschützt werden. Und alle anderen wiederum sind bereits bestmöglich geschützt oder könnten es zumindest sein. 

Zudem ist inzwischen hinlänglich bekannt, daß auch Geimpfte an Covid erkranken und zudem das Virus auf andere übertragen können. Die Realität ist also komplexer, als es Lauterbachs Schwarzweißaussage suggeriert. Komplexität aber spricht im Zweifel immer für individuelle Entscheidungsspielräume statt für schematische Verordnungen, die sich am Ende sogar oft als kontraproduktiv herausstellen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die „einrichtungsbezogene Impfpflicht“, die seit dem 16. März für Beschäftigte in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen gilt. Ob sie die vulnerablen Gruppen tatsächlich schützt, steht angesichts der nur eingeschränkten Schutzwirkung der Impfung in den Sternen. Ganz sicher führt sie aber in vielen Fällen zu Personalmangel gerade dort, wo es derzeit am dringendsten gebraucht wird.Warum also nicht der jeweiligen Praxis oder Klinik selbst überlassen, was ihren Patienten am besten dient? Möglicherweise sind dafür regelmäßige Tests und gute Hygienemaßnahmen in manchen Fällen ja besser geeignet als ein vollständig ausgefüllter Impfpaß. 

Auch in Gastronomie und Einzelhandel muß nicht alles nach Schema F ablaufen. Niemand ist ja gehindert, dort eine Maske zu tragen und Abstand zu Leuten zu halten, die es nicht tun. Es spricht auch nichts dagegen, entsprechende Vorgaben dem Geschäftsinhaber selbst zu überlassen. Im Wettbewerb wird sich dann schnell herausstellen, wo die Leute gern hingehen und wohin eben nicht. Jede Art von Fremdgefährdung kann man ohnehin nicht ausschließen, ebensowenig wie im Straßenverkehr oder beim Rauchen. ZeroCovid kann es darum nur um den Preis von ZeroFreiheit geben. Ob wir das wollen, müssen letztlich die Wähler entscheiden.






Prof. Dr. Ulrich van Suntum ist Volkswirt und lehrte von 1995 bis 2020 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.