© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

„Ich warne, die Russen zu unterschätzen“
Krieg: Rußlands Strategie in der Ukraine ist gescheitert. Nun greift es zu einer Wunderwaffe, gegen die der Westen machtlos ist. Oder hat der Kreml schon verloren? Luftwaffengeneral a.D. Joachim Wundrak mahnt, Putin gibt nicht auf, er gruppiert sich neu – und die Bundeswehr braucht eine Wende
Moritz Schwarz

Herr General, in Nato und Bundeswehr wurde anfangs angenommen, die russische Armee werde rasch siegen. Wie konnten sich die Experten so irren?

Joachim Wundrak: Das hat mehrere Gründe. Vor allem, daß Moskau etlichen strategischen Fehleinschätzungen unterlegen ist, basierend auch auf falschen Informationen des Auslandsgeheimdiensts. Nach meiner Ansicht sind sechs Punkte augenfällig.

Und das sind?

Wundrak: Überschätzung der eigenen operativen, logistischen und Führungsfähigkeiten. Überschätzung der Motivation der eigenen Soldaten beim Angriff auf ein Brudervolk. Unterschätzung des Widerstandswillens des ukrainischen Volkes. Unterschätzung des Mutes und der Führungskraft des ukrainischen Präsidenten. Unterschätzung des Kampfeswillens und der Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte. Sowie Fehleinschätzung der Einigkeit und der Reaktion des Westens.   

„Überschätzung der eigenen operativen, logistischen sowie Führungsfähigkeiten“, übersetzt: Mangelhaftes Material, fehlender Nachschub, schlechte Leistung bei Kampf und Führung. Ist Rußland militärisch also gar nicht so stark, sprich gefährlich wie wir bisher dachten?

Wundrak: Es gibt US-Quellen, die das so feststellen. Ich vermag das allerdings nicht zu verifizieren und würde davor warnen, leichtfertig nun den Schluß zu ziehen, die russische Armee sei in Gänze schlecht und keine Gefahr.

Es wird gewarnt, stoppt die Ukraine Putin nicht, greife der weitere Länder an, etwa im Baltikum, Polen oder seine Panzer könnten bald in Berlin stehen, wie der ukrainische Botschafter sagt. Ist das überhaupt denkbar, wenn seine Armee schon mit einem Feldzug vor der eigenen Haustür überfordert zu sein scheint?

Wundrak: Bezüglich ihrer Lage in der Ukraine muß man verstehen, daß die Russen offenbar mit einem ganz anderen Verlauf gerechnet haben, nämlich es genüge, einfach einzumarschieren und man würde quasi kampflos und wie Befreier mit Brot und Salz empfangen werden. Dieser Plan ist nicht aufgegangen, und daraus resultieren nun viele Probleme. Das heißt aber nicht, daß die russische Armee nicht zu einem erfolgreichen Angriff in der Lage ist, wenn dieser entsprechend geplant würde. 

Also könnte Putin bei einem Sieg in der Ukraine doch die Nato angreifen?

Wundrak: Angesichts der russischen Kräfte, die jetzt in der Ukraine gebunden sind – und falls der Krieg länger dauert oder es zu einer Besatzung kommt, auch gebunden bleiben –, wird Putin dafür wohl nicht die Kraft haben. Dazu kommt, daß die Nato inzwischen ihre Kräfte im Osten verstärkt hat. Damit sehe ich bisherige Bedrohungsszenarien für die Nato als nicht mehr akut an – etwa einen russischen Vorstoß durch die „Lücke von Suwalki“, also von Belarus nach Kaliningrad, ehemals Königsberg, um die Landverbindung zwischen Polen und Litauen zu unterbrechen und damit die baltischen Staaten von der übrigen Nato abzuschneiden.    

Wenn Putin einen ganz anderen Verlauf seines Einmarschs geplant hat, wie Sie sagen, heißt das dann nicht im Umkehrschluß, daß er den Krieg, so wie er jetzt verläuft – hart, blutig und mit vielen, auch zivilen Opfern –, an sich nicht wollte?

Wundrak: Na ja, die Eroberung der Ukraine durch Vorstoß auf fünf Angriffsachsen, wie das nun stattfindet, war so geplant. Allerdings, in der Tat wohl nicht ein solches Ausmaß an Verlusten sowohl bei der eigenen Truppe wie bei der Zivilbevölkerung. Dafür spricht auch, daß die Russen in der Anfangsphase offenbar bemüht waren, zivile Opfer zu vermeiden beziehungsweise gering zu halten. 

Wenn Putin diesen Krieg so nicht führen wollte und seine Truppen obendrein nun feststecken, könnte es dann nicht zu einem Verhandlungsfrieden kommen? 

Wundrak: Das passiert wohl nur dann, wenn Putin sein strategisches Ziel gefährdet sieht. Solange er aber seine Kriegsziele noch zu erreichen meint, auch wenn mit großer Verzögerung, wird er zwar verhandeln, aber ohne ernste Absicht. Vielmehr wird die russische Armee in nächster Zeit wohl Mariupol erobern und damit die Schaffung einer Landbrücke vom Donbass bis zur Krim abschließen – also eines ihrer zentralen Ziele erreicht haben.

Mehr und mehr ist aber inzwischen vom Gegenteil die Rede: Die Ukraine könnte den Krieg gewinnen. 

Wundrak: Ja, das höre ich selbst ehemalige US-Generäle sagen – jedoch halte ich das keineswegs für so klar. Vielmehr scheint mir, daß die Russen sich zur Zeit umgruppieren, und solange einfach versuchen, ihre Verluste zu minimieren – das zeigt etwa an, daß sie derzeit verstärkt weitreichende Waffen wie Artillerie und Raketen einsetzen. Sie werden dann weiter fortfahren, die ukrainischen Verteidiger einzukesseln und vom Nachschub abzuschneiden, um sie „auszutrocknen“. Was natürlich auch furchtbare Folgen für die dort verbliebenen Zivilisten hat.  

Wenn Putin seine Ziele nur langsam erreicht, läuft ihm dann aber nicht die Zeit davon? Denn zieht sich ein Krieg in die Länge, siegen meist die Einheimischen – so war es in Indochina, Algerien, Vietnam, im Irak oder in Afghanistan 1989 und 2021. 

Wundrak: Wir sehen derzeit einen konventionellen Krieg in der Ukraine. Um diesen zu bestehen, scheint Rußland die besseren Karten zu haben, wegen seiner größeren Reserven und Ressourcen. Etwas anderes ist es – und dann erst wäre das Szenario mit den von Ihnen genannten Beispielen vergleichbar –, wenn dieser zu Ende geht und danach ein Partisanenkrieg der Ukrainer gegen die Besatzer geführt würde. Ob das aber in der Ukraine so eintreten wird, kann ich nicht beurteilen.

Bleibt der Krieg weiter stecken, droht dann der Einsatz chemischer, biologischer oder atomarer Waffen? 

Wundrak: Über letztere verfügt die Ukraine ja nicht und hoffentlich auch nicht über B- und C-Waffen, denn ein Staat, der mit dem Rücken zur Wand steht, ist natürlich potentiell unkalkulierbar, gleich um welches Land es sich handelt. Was Rußland angeht, rechne ich nicht damit, weil es gegenüber der Ukraine über solch konventionelle Überlegenheit verfügt, daß es einen ABC-Waffeneinsatz nicht nötig hat. Der zudem seine internationale Position extrem schwächen würde, denn der Einsatz dieser Waffen ist weltweit geächtet – und schließlich ist jeder Krieg einmal zu Ende und Rußland dann wieder auf Kooperation angewiesen.

Die USA haben im Irak binnen kürzester Zeit die Luftherrschaft errungen und damit die Voraussetzung für einen schnellen Sieg über die Armee Saddam Husseins geschaffen. Warum gelingt das den Russen nicht? 

Wundrak: Der Unterschied ist, daß die Ukrainer über eine beträchtliche Menge an „Stinger“ und „Manpads“ verfügen, also tragbare Flugabwehrrakten, mit denen ein einzelner Infanterist angreifende Luftfahrzeuge bekämpfen kann. Dazu kommt, daß so mit einer kleinen aus der Schulter abgefeuerten Rakete, die vielleicht einige 10.000 Dollar kostet, ein Fluggerät zerstört wird, das bis zu 100 Millionen Dollar wert ist. 

Für weltweite Schlagzeilen sorgt nun der Einsatz der russischen Hyperschallrakete „Kinschal“. Warum?  

Wundrak: Weil das der erste Kriegseinsatz einer solchen Waffe überhaupt war. Wobei dies für die Ukraine wohl eher wenig Bedeutung hat, denn das damit getroffene Munitionsdepot hätten die Russen auch anders zerstören können. Tatsächlich ist ihr Einsatz wohl mehr als Propagandamaßnahme zu sehen, die sich vor allem an den Westen und die eigene Bevölkerung richten dürfte: Seht her, wir sind stark und entschlossen, denn wir haben diese neue Waffe und sind bereit, sie einzusetzen.

Weder die USA noch die Nato und erst recht nicht die Bundeswehr verfügen über eigene Hyperschallraketen und sind auch nicht in der Lage, sich gegen diese zu verteidigen. Warum nicht? 

Wundrak: Weil diese sehr schnell fliegen, bis zu zehnfacher Schallgeschwindigkeit, und zudem manövrierbar sind, so daß sie von keinem Luftverteidigungssystem erreicht werden können – die alle langsamer fliegen und zudem nur sehr schnelle Flugkörper zu bekämpfen vermögen, die auf einer geraden, also berechenbaren Bahn anfliegen. Und daß wir keine Hyperschallraketen haben – wobei die USA daran arbeiten –, hängt mit ihrer sehr teuren Entwicklung zusammen, für die, angesichts dessen, daß keine kriegerische Auseinandersetzung in Sicht zu sein schien, niemand so viel Geld in die Hand nehmen wollte. 

Also ein sträfliches Versäumnis? 

Wundrak: Na ja, hinterher ist man immer schlauer. Und nicht nur der Westen, selbst die Ukrainer haben ja nicht geglaubt, daß Putin das ganze Land angreifen würde. 

Wie würde die Bundeswehr abschneiden, wäre sie an Stelle der ukrainischen Armee? 

Wundrak: Tja, Deutschland gilt als eine sogenannte postheroische Gesellschaft, in der der Wille zur Verteidigung des Eigenen kaum noch ausgeprägt ist. Zudem leben wir seit 1990 in der Vorstellung eines immerwährenden Friedens. So daß nicht nur nach meiner Ansicht, sondern auch nach der anderer Generäle und Admiräle der Bundeswehr die deutschen Streitkräfte zu einer glaubwürdigen Landes- und Bündnisverteidigung nicht mehr in der Lage sind. Denken Sie nur daran, daß noch im Kalten Krieg das kleine Deutschland zwölf Divisionen im Heer plus eine deutlich größere Luftwaffe und Marine stellte. Heute dagegen ist es für das größere Deutschland wohl ein Problem, auch nur eine einzige kampffähige Brigade, also etwa 5.000 Mann, aufzubieten.   

Das eine ist die Kampfbereitschaft – das andere sind Material, Strukturen und Ausbildung. Das Bild der Bundeswehr ist hier das einer peinlichen Chaostruppe, in der fast nichts funktioniert und fast alles fehlt.

Wundrak: Daß in der Bundeswehr fast nichts funktioniert, stimmt nicht, das ist mir zu schwarz-weiß. Natürlich haben sich aber in Jahrzehnten viele Mißstände eingeschlichen. Und daß die langjährige Kanzlerin Angela Merkel nicht das geringste Interesse an der Bundeswehr hatte – außer es ging um Katastrophenhilfe –, hat dem alles andere als entgegengewirkt.  

Jetzt gibt es 100 Milliarden Euro. Wird nun alles gut? 

Wundrak: Ein ausreichender Etat ist natürlich eine Grundvoraussetzung. Doch allein den Munitionsvorrat lediglich auf den eigentlich nötigen Stand zu bringen, wird schon etwa 30 Milliarden kosten. Denn durch den jahrelangen „Bundeswehr-Dreikampf“ Schieben-Strecken-Streichen haben wir überall massive Lücken. Und es geht nicht nur um Material, es geht auch, wie Sie sagen, um Ausbildung sowie Strukturen. Zum Beispiel müßte endlich die völlig kontraproduktive Trennung zwischen Streitkräften und Wehrverwaltung aufgehoben werden. Oder statt immer mehr Zentralisierung müßte wieder Kompetenz und Verantwortung auf niedriger Ebene zusammengelegt werden. Und ganz besonders wichtig: Die Änderungen müssen evolutionär und nicht reformatorisch erfolgen! Weil Reformen in der Vergangenheit immer nur Strukturen zerrissen, statt fortentwickelt haben. 

Nun kauft Deutschland 35 neue US-Jagdbomber. Allerdings gilt die F-35 als notorischer Pannenflieger. Bahnt sich da der nächste „Schuß ins Knie“ an?

Wundrak: Nein, die F-35 gehört einer neuen Generation Kampfflugzeuge an, und es ist normal, daß neue Technologien Kinderkrankheiten haben. 

Gerade offenbart allerdings ein bislang geheimer Pentagon-Bericht massive Probleme des Tarnkappenjets!

Wundrak: Ich denke, die Probleme werden bis zur Auslieferung der deutschen Flugzeuge in einigen Jahren weitgehend behoben werden. Acht Länder haben die F-35 bereits im Dienst, zehn europäische Luftwaffen führen sie ein, was einen großen Vorteil für die Logistik bedeutet. Denn durch hohe Stückzahl sinkt der Preis für Ersatzteile, so daß mehr davon bevorratet werden kann, was die Einsatzbereitschaft des Flugzeugs erhöht.   

Dieses sogenannte „Stealth“-Flugzeug kompensiert seine unterlegene Flugleistung durch die Fähigkeit, für Radar „unsichtbar“ zu sein. Allerdings gelang es 1998 Serbien, das Vorgängermodell dennoch zu orten und abzuschießen. Und das deutsche Hensoldt-Radar soll auch die F-35 enttarnen können.  

Wundrak: Die Stealth-, also „Tarnkappen“-Technologie ist in den USA seit langem erprobt. Und ich durfte vor vier Jahren den Ersteinsatz israelischer F-35 in Syrien mitverfolgen, was sehr beeindruckend war. Natürlich aber kann zu allem auch ein Gegenmittel entwickelt werden, aber dies braucht viel Zeit und Geld. Darüber hinaus halte ich es auch für gut, daß wir uns nicht nur auf einen Flugzeugtyp verlassen, sondern unsere Luftwaffe ja außerdem als Hauptwaffensystem unseren Eurofighter Typhoon einsetzt. Dazu ist die F-35 Lightning II die richtige Ergänzung. 






General a.D. Joachim Wundrak, war zuletzt Kommandeur des Zentrums Luftoperationen der Luftwaffe beziehungsweise des Kommandos Operative Führung der Luftstreitkräfte sowie Stellvertreter des Befehlshabers im Luftwaffenführungskommando. Er diente außerdem auf dem Balkan, in Afghanistan, im Führungsstab der Streitkräfte und war Befehlshaber des Combined Air Operations Center der Nato. Der Diplom-Ingenieur und Generalleutnant a.D., der 1955 in Kerpen bei Köln geboren wurde, ist seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags für die AfD, der er 2018 beigetreten ist. Ebenfalls 2021 gab er das Sammelbändchen „Warum Soldaten die AfD wählen“ heraus. 

Foto: Russisches MiG-31-Kampfflugzeug mit Hyperschall­waffe „Kinschal“ unter dem Rumpf: „Das war der erste Kriegseinsatz eines solchen Kampfmittels überhaupt. Der für die Ukraine aber weniger Bedeutung hat ... (sondern) sich vielmehr vor allem an uns, den Westen richtet“