© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Krieg trifft auf Konfusion
Flüchtlingskrise: Die deutsche Politik zeigt sich überfordert – wieder einmal
Florian Werner

Langsam aber sicher werden die Ausmaße der von Rußland verursachten Flüchtlingswelle auch in Deutschland sichtbar. Bei einem Treffen zwischen Bund und Ländern stimmte Kanzler Olaf Scholz (SPD) die Ministerpräsidenten und Bundesminister auf eine „große, große Herausforderung“ ein. „Wir wissen, es werden viele sein“, mahnte er. Laut UN-Angaben könnten insgesamt bis zu zehn Millionen Ukrainer flüchten. Die meisten davon kommen derzeit noch in Polen und Rumänien an. Aber auch in Deutschland steigen die Ankunftszahlen. 

Dem Bundesinnenministeriums zufolge sind bereits über 200.000 Ukrainer in Deutschland eingetroffen. Bei dem Bund-Länder-Treffen hatte Scholz unter anderem zugesagt, logistische Fragen und die Verteilung der ankommenden Kriegsflüchtlinge zu übernehmen. Deren Aufteilung solle nach dem Königsteiner Schlüssel erfolgen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) pochte vor diesem Hintergrund auf die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Verwaltungsebenen. „Die Erstaufnahmen sind gerade stark belastet. Wir arbeiten engstens mit den Ländern und Kommunen zusammen, um schnell für Entlastung und Verteilung zu sorgen“, äußerte sie beim Besuch einer vom Technischen Hilfswerk betreuten Aufnahmeeinrichtung in Berlin. Regierungssprecher Steffen Hebestreit zufolge will man die finanziellen Fragen der Flüchtlingskrise derweil bei einem weiteren Treffen zwischen Bund und Ländern am 7. April klären. Die Verteilung der Flüchtlinge auf Bundesebene scheint derweil schlechter zu funktionieren als erhofft. 

Das bayerische Innenministerium zeigte sich kürzlich verärgert über das Ausbleiben von Flüchtlingsbussen aus der Bundeshauptstadt. Diese seien den bayerischen Behörden zwar angekündigt worden, hätten Berlin aber niemals verlassen. Dem BR zufolge machte das Innenministerium in München die mangelnde Organisation in der Spreemetropole für das Ausbleiben der Flüchtlinge in Süddeutschland verantwortlich. Die baden-württembergische Integrationsministerin Marion Gentges (CDU) äußerte eine ähnliche Kritik. „Der Bund hat angekündigt, die Flüchtlingsverteilung übernehmen zu wollen. Offen gesprochen ist davon bislang nichts festzustellen“, monierte die Politikerin. Von den 1.800 angekündigten seien in ihrem Bundesland bisher nur 50 angekommen. 

Ukrainische Lehrer sollen Flüchtlingskinder unterrichten

Die Union warf der Ampel-Regierung unterdessen vor, die wahren Ausmaße der Fluchtbewegung nach Deutschland unter den Teppich zu kehren. Die bisher angeführte Zahl von einer Million erwarteten Ukrainern sei „völlig unrealistisch“, warnte beispielsweise der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephuhl (CDU). „Ich erwarte ein Vielfaches dessen für Deutschland.“ Offensichtlich nehme das Bundesinnenministerium das Thema immer noch nicht ernst genug, mahnte der Politiker.

Diskutiert wurde angesichts der Flüchtlingswelle aus der Ukraine auch, wie man die in Deutschland ankommenden Kinder und Jugendlichen schulisch betreuen soll. Das Bundesbildungsministerium kündigte in diesem Zusammenhang auch an, sich um die Schaffung von Deutschkursen für ukrainische Flüchtlinge zu bemühen. Die Generalkonsulin der Ukraine in Hamburg, Iryna Tybinka, forderte hingegen, die nach Deutschland gekommenen Flüchtlingskinder auch weiterhin nach ukrainischem Lehrplan zu unterrichten. Für die Jugendlichen gehe es wegen des Krieges nur um einen befristeten Aufenthalt im Ausland, erläuterte sie weiter. Die Heranwachsenden bräuchten Kontinuität in ihrem Bildungsweg und dürften zudem ihre nationale Identität nicht verlieren. Außerdem würde der Lehrplan aus der Ukraine den Kindern ein vertrautes Lernumfeld bieten. Tybinka schlug vor, daß während der Corona-Pandemie aufgebaute Online-Portal „e-school.net.ua“ zu benutzen , um ukrainische Schüler in Deutschland zu unterrichten. Darüber hinaus setzte sie sich dafür ein, vor dem Krieg geflüchtete Lehrer in die Beschulung einzubinden. Auch die ukrainische Regierung in Kiew hat sich mehrfach dafür ausgesprochen, ukrainische Flüchtlingskinder im Ausland weiter nach dem ukrainischen Lehrplan zu unterrichten. Berichten Betroffener zufolge nehmen bereits jetzt zahlreiche geflüchtete Kinder von Deutschland aus am Online-Unterricht ihrer ukrainischen Schulen teil. Selbst unter Kriegsbedingungen scheint diesen zu gelingen, woran viele deutsche Lehranstalten während der Corona-Lockdowns scheiterten.

Generalkonsulin Tybinka kritisierte außerdem, daß die Ukraine in deutschen Lehrplänen zu kurz komme. „In Deutschlands Lehrplänen und Richtlinien dominiert nach wie vor Rußland und russischer Imperialismus“, klagte sie. Genau vor diesem Geschichtsbild müßten ukrainische Jugendliche aber im Moment geschützt werden. Ansonsten würde dies „Putin in die Hände spielen, der davon träumt, die Ukraine als Staat und Nation auszulöschen“.

Die Berliner Bildungspolitikerin Maja Lasić (SPD) widersprach der Diplomatin. „Die Annahme, daß die Kinder schnell wieder weg sind, hat sich bisher bei keiner einzigen Fluchtbewegung bewahrheitet“, mahnte die Sozialdemokratin. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Heinz-Peter Meidinger berichtete derweil von Versuchen, bereits pensionierte Lehrer für den Schuldienst zu reaktivieren. „Die Hilfsbereitschaft und der Idealismus sind groß. Das stimmt mich optimistisch. Wir haben eine gute Chance, die Aufnahme der Kinder aus der Ukraine erfolgreich zu gestalten“, äußerte er.

CDU-Chef Friedrich Merz warnte vor einer unkontrollierten Zuwanderung. Es spielten sich chaotische Szenen auf deutschen Bahnhöfen ab. Das Innenministerium hätte sich schon längst um die Einrichtung eines Krisenstabs kümmern müssen. „Wir müssen damit rechnen, daß die Zahl der Flüchtlinge in den nächsten Tagen und Wochen noch einmal drastisch zunimmt. Unter diesen befinden sich nach unseren Erkenntnissen mittlerweile auch immer mehr Migranten, die gar nicht aus der Ukraine kommen“, warnte Merz. Er verlange daher von der sozialdemokratischen Innenministerin, die Personalien der in Deutschland ankommenden Ukrainer an den Grenzen zu erfassen.

Ähnlich äußerte sich auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Es sei „unabdingbar“, so der Verband, daß die in Deutschland ankommenden Ukrainer erkennungsdienstlich behandelt würden. Vor allem über das planlose Verhalten der Stadt Berlin bei der Aufnahme der Kriegsflüchtlinge empörten sich die Polizisten und bezeichneten das ziellose Agieren der Stadt als „Armutszeugnis“. „Bedauerlicherweise scheinen dabei auch ideologische Gründe eine Rolle zu spielen“, monierten sie in ihrem Schreiben laut Welt. Den Gerüchten, ein beträchtlicher Teil der in Deutschland ankommenden Kriegsflüchtlinge seien gar keine Ukrainer, widersprach das Bundesinnenministerium indes. „Deutlich über 90 Prozent der Menschen, die die Bundespolizei hier in den Zügen, an den Bahnhöfen und in den grenznahen Gegenden feststellt, sind Ukrainer“, teilte ein Ministeriumssprecher zu Wochenbeginn mit.

Zwei Drittel der Geflüchteten werden privat untergebracht

Unterdessen tauchen immer mehr Berichte über Kriminelle auf, die Frauen und Kinder aus der Ukraine abpassen, um sie zu entführen. Vermutet werden dabei unter anderem Bezüge zur Zwangsprostitution. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hat sich deshalb für die Schaffung spezieller Schutzzonen in Bahnhöfen ausgesprochen. Auch Europol warnte zuletzt vor Menschenhändlern. „Kurzfristig besteht das größte Risiko darin, daß Kriminelle unter dem Vorwand, Transport, kostenlose Unterkunft, Arbeit oder andere Formen der unmittelbaren Unterstützung zu versprechen, potentiell Opfer anvisieren“, mahnte die internationale Strafverfolgungsbehörde. Die Bundespolizei fordert mit Plakaten in deutscher, ukrainischer und russischer Sprache an den Bahnhöfen dazu auf, entsprechende Verdachtsfälle zu melden.

Derweil stellt auch die Unterbringung der Flüchtlinge die Bundesländer vor erhebliche Probleme. Obwohl Städte wie Berlin, Hannover und München Messehallen und Schulgebäude zu Behelfsunterkünften umfunktionieren, können nach wie vor nicht alle Neuankömmlinge mit Wohnraum versorgt werden. So sind allein in Niedersachsen laut Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) in den vergangenen Tagen über 11.000 Kriegsflüchtlinge angekommen. Die Union hat daher eine Unterbringungspauschale für Privatpersonen ins Spiel gebracht, die Ukrainer aufnehmen. „Ukrainischen Flüchtlingen, die bei Familienangehörigen oder Privatleuten untergekommen sind, muß nun unbürokratisch geholfen werden, indem ihnen eine Pauschale zur Deckung der Kosten für die Unterkunft gezahlt wird“, erläuterte etwa der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Alexander Throm (CDU). Laut Bundesregierung werden derzeit zwei Drittel aller ukrainischen Kriegsflüchtlinge privat untergebracht.

Aber auch die Hotellerie will sich allem Anschein nach verstärkt an der Aufnahme von Ukrainern beteiligen. „Es sind alle dabei, ausnahmslos alle. In den ländlichen Gebieten eher private Häuser, die dort überwiegen. Aber gerade in Frankfurt zum Beispiel, wo der höchste Bedarf ist, auch Kettenbetriebe, auch die ganz großen Marken“, bekräftigte etwa der Geschäftsführer des hessischen Hotel- und Gaststättenverbands, Julius Wagner. Die Initiative für die Hilfsaktionen sei von der Branche ausgegangen. Man habe verbandsintern nach den ersten Nachrichten über Flüchtlinge aus der Ukraine kurzerhand eine Vorstandssitzung einberufen und beschlossen zu handeln.

Berlins Sozialministerin Katja Kipping (Linkspartei) kündigte indes an, den Zugang der Neuankömmlinge zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen zu erleichtern. „Die Ukraine-Flüchtlinge haben jetzt schon Anspruch auf Nothilfe, die ihnen die Sozialämter der Bezirke bar auszahlen, wenn sie kein Geld haben.“ Die meisten Ämter seien mittlerweile allerdings schon überlaufen, weswegen die Stadt Berlin inzwischen auf vereinfachte Verfahren ausweicht. „Die Geflüchteten, die hier schon eine feste Bleibe haben und dazu einen biometrischen Paß, können digital eine sogenannte Fiktionsbescheinigung vom Landesamt für Einwanderung erhalten, die ihnen vorläufigen Zugang zur Arbeitswelt gibt und die Möglichkeit, Sozialleistungen zu beziehen“, erläuterte die Sozialsenatorin in der FAZ. Zudem wies Kipping auf die Notwendigkeit hin, ukrainische Berufsabschlüsse „pauschal“ in Deutschland anzuerkennen, um den Anschluß an den deutschen Arbeitsmarkt nicht noch weiter zu erschweren.

Der Sprecher des Bundesinnenministeriums äußerte sich ähnlich. „Wir haben die Ausländerbehörden der Länder darum gebeten, mit der Aufenthaltserlaubnis auch die Arbeitserlaubnis zu erteilen. Wir haben außerdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gebeten, die Integrations- und Sprachkurse unmittelbar zu öffnen.“ Dies sei ein wichtiger Schritt in Richtung Arbeitsmarktintegration. 

Die Zahl der täglich in manchen deutschen Städten ankommenden Flüchtlinge übersteigt schon jetzt die aus den Jahren 2015 und 2016 um ein Vielfaches. Solange der Krieg in der Ukraine nicht aufhört, wird sich daran aber voraussichtlich nichts ändern. 

Foto: Flüchtlinge aus der Ukraine warten vor dem Ankunftszentrum am früheren Flughafen Berlin-Tegel: „Völlig unrealistisch“