© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Parlamentarische Dunkelstunde
Paul Rosen

Was hätte Willy Brandt in so einer Situation gemacht? Mit seinem Sinn für historische Momente wäre Brandt nach der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi am Donnerstag im Bundestag zum Rednerpult geschritten, um zu antworten – vor allem, weil Selenskyi auf die deutsche Teilung und ihr Symbol, die Berliner Mauer, Bezug genommen hatte. Durch die russische Invasion gebe es eine Art neuer Mauer mitten in Europa, die „zwischen Freiheit und Unfreiheit“ trenne. An Bundeskanzler Scholz (SPD) appellierte er: „Zerstören Sie diese Mauer“ – eine unübersehbare Parallele zu Ronald Reagans Appell 1987 in Berlin an KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow: „Tear down this Wall“ (Reißen Sie diese Mauer nieder).

Aber Scholz wirkte steif, als fehle ihm eine Regieanweisung – anders als bei seiner Zeitenwende-Rede, als Mitarbeiter ihm alles haarklein aufgeschrieben hatten. Dabei hätte es nicht einmal einer Debattenvereinbarung bedurft, um auf Selenskyi zu antworten. Dessen Rede war als „Sonderveranstaltung“ außerhalb der offiziellen Tagesordnung eingeplant worden, und man kann sicher sein, daß die amtierende Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) Scholz nicht das Mikrofon abgedreht hätte, wenn er hätte sprechen wollen. Zumal sie selbst in ihrer emotionalen Begrüßungsrede eine Antwort der Bundesregierung de facto eingefordert hatte: Die Welt stehe der Ukraine bei. „Auch Deutschland ist an Ihrer Seite.“

Auf Selenskyi folgte eine parlamentarische Dunkelstunde. Göring-Eckardt eröffnete die reguläre Sitzung und begann wie im Ablauf vorgesehen mit dem Verlesen von Glückwünschen, was schon zu etlichen Zwischenrufen aus der Union führte: „Pfui! – Ein Skandal! – Unerhört! – Peinlich!“  Erst nachdem noch eine Reihe von Gremienwahlen zum Beispiel zum „Beirat der kleinen Forscher“ abgehalten worden war, kam CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz mit einem Geschäftsordnungsantrag zu Wort, in dem er eine sofortige Debatte zum Ukraine-Konflikt verlangte: „Nach dieser Rede heute morgen von Staatspräsident Selenskyj wäre doch jetzt, genau zu dieser Minute, der richtige Zeitpunkt, einmal eine Zwischenbilanz zu ziehen.“ Und AfD-Geschäftsführer Bernd Baumann forderte (unter Beifall einiger Unionsabgeordneter, was sehr selten ist): Scholz „muß sich hier zu Wort melden und sagen, wo es langgehen soll. Das verlangt der Respekt.“ Für die Koalition konterte SPD-Fraktionsgeschäftsführerin Katja Mast: „Wir, die Ampelkoalition, sind überzeugt, daß die Worte des ukrainischen Präsidenten für sich stehen. Sie haben es verdient, für sich wahrgenommen zu werden.“ Die Ampel-Mehrheit lehnte eine Debatte ab, der Bundestag begann danach mit der vorgesehenen Debatte über eine Impfpflicht.

Vom „würdelosesten Moment im Bundestag, den ich je erlebt habe“, sprach später Norbert Röttgen (CDU). Linken-Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte warnte den Kanzler: „Sie müssen aufpassen, daß Sie nicht nach hundert Tagen schon so arrogant sind wie andere nach 16 Jahren.“