© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Westliche Verlierer
Aktienmarkt: Die Sanktionen gegen Rußland treffen Unternehmen und Banken / China, Indien und einige Schwellenländer könnten teilweise profitieren
Thomas Kirchner

Vor viereinhalb Jahren plauderte der israelische Multimilliardär und Mitgründer der Luxemburger LetterOne SA, Michail Fridman, in der Yale School of Management in Connecticut über seine erfolgreiche Unternehmerkarriere: 1964 im ukrainischen Lemberg geboren, gründete der Jungingenieur schon in der Gorbatschow-Zeit in Moskau die Alfa Group, die dann unter Boris Jelzin und Wladimir Putin zu einem der größten privaten Industrie- und Finanzkonzerne in Rußland aufstieg. Heute kann er nicht einmal mehr seine Putzkolonne in seinem Londoner Domizil bezahlen – wegen seines russischem Passes steht Fridman ganz oben auf den westlichen Sanktionslisten gegen die Kreml-Kamarilla.

Auch an der deutschen Industrie geht die Sanktionitis nicht spurlos vorbei. Ihre Fertigungsketten sind komplex; nach Klima und Corona sorgt nun der Ukraine-Krieg für zusätzliche Probleme, doch ein Zurückrudern ist im derzeitigen Politikbetrieb unwahrscheinlich. Die Sanktionsauswirkungen äußern sich im Kursverlauf des Dax: Seit seinem Höchststand im Januar (16.290) fiel der deutsche Börsenindex nach Kriegsbeginn auf 12.438 Zähler – ein Rückgang von 24 Prozent. Daß die beiden russischen Rohstoffkonzerne Evraz und Polymetal zu Wochenbeginn aus dem Londoner Börsenindex FTSE 100 flogen, ist verschmerzbar – aber was passiert mit jenen umgerechnet 490 Milliarden Dollar, die ausländische Investoren Rußland oder russischen Unternehmen geliehen haben?

Der arabische Megakonzern Saudi Aramco steigerte 2021 seinen Nettogewinn um 124 Prozent auf 109,9 Milliarden Dollar – bei einem Umsatz von 400,4 Milliarden Dollar. Und Konzernchef Amin Nasser weiß, daß Öl und Gas „weiter eine Schlüsselrolle spielen“. Auch einige Schwellenländer profitieren von den Ukraine-Turbulenzen. Brasilien, Peru, Indonesien oder Thailand verzeichnen positive Entwicklungen. Chinas Wirtschaftsprobleme begannen bereits vor dem 24. Februar im Immobiliensektor (JF 40/21). Die Drangsalierung des Internetsektors begann Ende 2019 mit der Machtkonsolidierung von Xi Jinping. In Verbindung mit den rigorosen Corona-Maßnahmen fielen chinesische Aktien um 31 Prozent seit dem Höchststand von Anfang 2021.

Dazu kam am 8. März die Veröffentlichung einer Liste chinesischer Firmen durch die Washingtoner Wertpapieraufsicht SEC, deren Börsenzulassung in den USA auf der Kippe steht. Vizepremier Liu He kündigte daraufhin Maßnahmen an, um die chinesische Wirtschaft und den Aktienmarkt zu stärken. Damit scheint Chinas Börsenabsturz gebannt, zumindest bis zum 20. KP-Parteitag im November. Während der Absturz bei westlichen Technologieaktien noch andauern dürfte, sollte er bei den chinesischen Werten vorüber sein.

Bemerkbar macht sich der Unterschied zwischen Industrie- und Entwicklungsländern jetzt schon im Finanzsektor. Westliche Banken sind dabei die Verlierer. Die Deutsche Bank reduziert nach anfänglichem Zögern nun doch ihr Rußland-Geschäft. Von den westlichen Instituten hat nur die Citibank mehr Angestellte in Rußland, doch die Amerikaner planen schon länger den Abzug. Österreichs Raiffeisenbank erzielte bislang ein Drittel ihrer Einnahmen in Rußland und erwägt nun ein Ende des Engagements – die einstige Neutralität steht, wie auch im Falle von Finnland, Schweden und der Schweiz, praktisch nur noch auf dem Papier.

Auswirkungen sind erst in der zweiten Jahreshälfte spürbar

Die Kunden in Rußland lösen sich natürlich nicht in Luft auf, sie gehen dann eben zu chinesischen oder indischen Banken, deren Regierungen keine Sanktionen verhängt haben. Deren Wachstum geht auf Kosten des Schrumpfens der Europäer. Eventuelle Kreditverluste durch die Sanktionen können die Auswirkungen auf europäische Banken noch verschärfen. Die gleiche Verschiebung der Gewichte zeichnet sich auch bei den Kreditkarten ab: American Express, Mastercard und Visa wickeln keine Zahlungen in Rußland mehr ab. Die Regierung in Moskau will deshalb die chinesischen Konkurrenzkarten von UnionPay einführen. Es wird der große Durchbruch dieses vor 20 Jahren gestarteten Systems in einer G20-Wirtschaft sein. Folgt auch Indien, werden fast drei Milliarden Konsumenten das Kreditkartensystem nutzen können.

Die Rußland-Sanktionen werden das faktische Kreditkartenmonopol der Amerikaner brechen. Das scheint noch relativ harmlos, doch es drohen weit größere, strukturelle Veränderungen als Reaktion auf die westlichen Sanktionen. Saudi-Arabien könnte künftig die chinesische Währung Yuan als Zahlungsmittel für seine Öllieferungen akzeptieren. Die Öffentlichkeit im Westen ist durch den blutigen Ukraine-Krieg äußerst aufgebracht – was es den Politikern einfacher macht, die Sanktionsschraube weiter anzuziehen. Und das wird als Gefahr erkannt. Die Bundesbank hat durch Repatriierung deutscher Goldreserven ein solches Szenario vorweggenommen. Daß jetzt andere Länder Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, ist nur logisch.

Ebenfalls auf der Verliererseite sind die Leasinggesellschaften von Flugzeugen, die von russischen Fluglinien wie Aeroflot, Rossija oder S7 genutzt werden. Die sitzen jetzt in Rußland fest, ohne daß die Leasingraten gezahlt werden. Auf Kreditversicherungen kommen jahrelange Rechtsstreitigkeiten und Milliardenschäden zu. Schlecht sieht es auch für europäische Fluggesellschaften aus, die wie zu Sowjetzeiten längere Routen auf Strecken nach Ostasien fliegen müssen. Für Reisende wie Luftfracht wird es auf diesen Strecken nun unangenehm teuer. Turkish Airlines und die Golf-Konkurrenz dürften profitieren.

Für die Mehrzahl der westlichen Auto- und Konsumgüterhersteller ist der russische Markt verzichtbar. Aber es gibt auch solche, die mit erheblichen Risiken rechnen müssen: Danone (fünf bis sechs Prozent des Umsatzes), Renault (15 Prozent) oder Carlsberg (16 Prozent des Vorsteuergewinns). Der Chef der Deutschen Bank, Christian Sewing, warnte, daß viele Sanktionsauswirkungen sich erst in der zweiten Jahreshälfte bemerkbar machen werden. Im Vergleich zu Finanzkrisen reagieren Rohstoffmärkte mit Verzögerung (JF 12/22).

Wie stark die Sanktionen Rußland selbst schaden, ist umstritten. Analysten von Bloomberg schätzen den Rückgang der russischen Wirtschaftsleistung bisher auf lediglich zwei Prozent. Andere Vorhersagen rechnen mit einer Schrumpfung um 14 Prozent. Die seit 2013 amtierende Zentralbankgouverneurin Elwira Nabiullina hat bereits eine „strukturelle Transformation“ der russischen Wirtschaft angekündigt. Preiskontrollen seien bei dieser neuen „Perestroika“ keine Option. Zumindest in diesem Punkt könnte Rußland die Auswirkungen der Sanktionen vielleicht besser beherrschen als der Westen.

EU-Durchführungsverordnung 2022/336 zu den verschärften Rußland-Sanktionen: eur-lex.europa.eu