© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Instinktiv zugreifen
Zwischen sinnvoller Bevorratung und angstgesteuertem Hamstern: Der Ukraine-Krieg läßt die Deutschen wieder verstärkt in die Supermärkte laufen
Christian Schreiber

Viele Menschen fühlen sich derzeit an das Frühjahr 2020 erinnert. Damals wurde der erste Lockdown verhängt, viele Menschen reagierten vorab mit „Hamsterkäufen“. Es gab Wochen, in denen Lebensmittelmärkte Toilettenpapier und Nudeln nur rationiert abgaben.

Mit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die Angst zurück. Das Bundesamt für Katastrophenschutz rät unterdessen zur Besonnenheit, hat aber auch relevante Tips, wie man im Extremfall mehrere Tage ohne Einkaufsmöglichkeit übersteht. „Ganz unabhängig vom aktuellen Zeitgeschehen ist es für jeden Bürger sinnvoll, zu Hause einen Nahrungsmittelvorrat und Trinkwasser für zehn Tage zu lagern. In Krisensituationen können Sie so zu Hause bleiben und Einsatzkräfte und Supermärkte entlasten. Das ist neben dem Notfallrucksack, der Ihnen ermöglicht, bei Hochwasser oder einem Brand schnell das Haus zu verlassen, eine wichtige Säule im Katastrophenschutz“, teilt die Behörde mit und nennt ein Beispiel: „Auf gekühlte oder gar tiefgekühlte Produkte sollten Sie lieber verzichten, da die Stromversorgung in einer Ausnahmesituation wahrscheinlich unterbrochen ist und damit auch die Kühlung nicht mehr funktioniert.“

Damit wäre man wieder beim Thema Nudeln. In bestimmten Regalen mancher Supermärkte herrscht gähnende Leere. „Wie bereits zu Beginn der Corona-Krise sollten sich die Kunden untereinander solidarisch verhalten und Produkte nur in haushaltsüblichen Mengen einkaufen“, mahnt Christian Böttcher vom Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels (BVLH). Keine Hamsterkäufe zu tätigen, dazu hat der Verband die Deutschen bereits aufgerufen.

Doch das ist ein schwieriges Unterfangen. Aus Angst davor, daß die Preise weiter steigen oder es bestimmte Produkte vorübergehend nicht mehr gibt, legen viele nun erneut private Vorräte an. Und sorgen so dafür, daß sich ihre Ängste erfüllen. Die Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz erklärte dieses Phänomen in der vergangenen Woche anschaulich. Beraterin Rita Rausch sagte in einem Gespräch mit dem Südwestrundfunk: „Die Verbraucher sehen leere Regale, also greifen sie zu.“ Das sei spontan. Die Psychologie wiederum spreche in diesem Zusammenhang von den „Mixed-motive-Situations“. Auf gut deutsch: Der Verbraucher ist hin und her gerissen. Handele ich im Eigeninteresse oder zum Wohl der Allgemeinheit? Kaufe ich für meine Vorratskammer fünf Liter Sonnenblumenöl oder begnüge ich mich mit zwei Litern, so daß auch andere noch zugreifen können?

Eine Welle von Preissteigerungen bei Lebensmitteln steht bevor

Alle Experten sind sich einig, daß Hamsterkäufe vor allem bei Nudeln oder Toilettenpapier überflüssig sind. Doch es gibt auch Sorgen, der Ukraine-Krieg könne Lieferketten unterbrechen. Dies gilt auch beim Speiseöl. Die Ukraine ist vor allem für Sonnenblumenöl und Getreide ein sehr wichtiger Lieferant auf dem Weltmarkt. Das US-amerikanische Landwirtschaftsministerium veröffentlichte Anfang März eine Studie, aus der hervorgeht, daß die Ukraine in normalen Jahren für 48 Prozent der weltweiten Sonnenblumenöl-Exporte verantwortlich ist. Rußland exportiert weitere 29 Prozent. Gemeinsam sind diese beiden Länder also für fast 80 Prozent der Sonnenblumenöl-Exporte auf dem Weltmarkt verantwortlich.

Deutschland greift vor allem auf die ukrainischen Speiseöle zurück: Bisher wurden 53 Prozent des deutschen Sonnenblumenöl-Bedarfs mit Importen aus der Ukraine gedeckt, wie die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) mitteilt. Deutschland deckt seinen Sonnenblumenöl-Bedarf insgesamt zu 94 Prozent über Importe. Das heißt: Nur sechs Prozent kommt aus der heimischen Produktion. Nach Detlef Volz, Geschäftsführer der Ölmühle C. Thywissen, wurden bis zur nächsten Ernte im September 2,5 Millionen Tonnen Sonnenblumen-Rohöl aus der Ukraine erwartet. „Momentan kommt aber kein Schiff mehr aus der Ukraine. Ob es bald wieder Lieferungen geben wird, hängt davon ab, wie lange der Krieg noch andauert. Die Aussaat bei den Sonnenblumen ist im April. Ob die Felder bis dahin wieder bestellt werden können, ist ungewiß.“

Die Aussichten sind in der Tat trübe. Der Verband Ölsaatenverarbeitender Industrie bestätigt gegenüber dem Nachrichtenportal tagesschau.de den akuten Mangel an Speiseölen. „Sonnenblumenöl ist derzeit knapp“, so ein Sprecher. Momentan würden Restbestände aus den Lagern verkauft, die Vorräte bald aufgebraucht sein. „Das Sonnenblumenöl wird nur noch für ein paar Wochen reichen“, erklärt der Verbandssprecher. Einige Supermärkte haben mittlerweile angefangen, den Verkauf von Sonnenblumenöl zu begrenzen. In einzelnen Penny-Filialen in Ballungszentren dürfen Kunden nur noch eine Flasche Öl pro Einkauf mitnehmen. Auch Rewe begrenzt den Einkauf von Sonnenblumen-, Raps- und Frittieröl. Bei Aldi-Süd liegt die Grenze bei vier Flaschen der Hausmarke. Grund zur Panik bestehe allerdings nicht, erklärte ein Branchensprecher. „Momentan gibt es genügend Alternativen zu Sonnenblumenöl.“ Rapsöl und andere Ölsorten seien ausreichend vorhanden, heißt es vom Verband Ölsaatenverarbeitender Industrie.

Neben Sonnenblumenöl seien derzeit vor allem Mehl und Getreide gefragt, beobachtet der Verband der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft. „Die Versorgung mit Mehl in Deutschland ist sichergestellt. Die Mühlen haben genügend Getreide gelagert, um Bäckereien und Supermärkte zuverlässig mit Mehl zu versorgen. Es gibt keinen Anlaß zur Besorgnis“, erklärt Geschäftsführer Peter Haarbeck.

Doch neben der Angst vor einer Lebensmittelknappheit treibt auch die Sorge vor einem Preissprung die Menschen in die Supermärkte. Das Münchner Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo erwartet in diesem Jahr einen empfindlichen Anstieg der Preise für Lebensmittel. „Nach unseren Umfragen planen in den kommenden Monaten mehr als zwei Drittel der Nahrungsmittelhersteller weitere Preisanhebungen“, sagte der Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser der Welt am Sonntag. Das seien so viele wie nie zuvor im wiedervereinigten Deutschland. „Somit dürften die Nahrungsmittelpreise in diesem Jahr ein maßgeblicher Inflationstreiber werden.“ Aldi-Süd nannte gegenüber dem WDR mehrere Gründe für den Preisanstieg. Darunter die Omikron-Welle, denn die Maßnahmen gegen Sars-CoV2 haben Lieferketten und Produktionen auf der ganzen Welt unterbrochen. Außerdem fehlte es an Erntehelfern. Und auch den internationalen Mangel an Lkw-Fahrern und die gestiegenen Kosten für Energie und Rohstoffe führt Aldi-Süd als Begründungen an. Der Ukraine-Krieg täte ein übriges.

Kein Einzelfall ist die gestiegene Nachfrage nach Jodtabletten, weil viele Bürger seit der jüngsten russischen Drohung mit Atomraketen Ende Februar Angst vor radioaktiver Strahlung haben. In Apotheken in Nordrhein-Westfalen sind die Tabletten mittlerweile schon ausverkauft, teilte der Apothekerverband Nordrhein mit. Auch in vielen Online-Apotheken sind sie nicht mehr erhältlich. Nach JF-Informationen kann von einem Mangel des Medikaments jedoch keine Rede sein, wie stichprobenartige Nachfragen bei Apotheken in Berlin und Brandenburg ergaben. Einer der zahlreichen Hersteller des rezeptfreien Mittels kann immer liefern. Die üblichen Kaliumjodid-Tabletten aus der Apotheke erfüllen ihren Zweck, rechtzeitig die Schilddrüse mit unverstrahltem Jod zu sättigen, ohnehin nicht, denn zum einen ist die Dosierung um den Faktor tausend zu niedrig, zum anderen nützen sie nur, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt geschluckt werden, nicht im voraus und bei Menschen ab 45 Jahren ohnehin nicht. Deutschland hält 189,5 Millionen hochdosierte Kaliumjodidtabletten bereit, die die Behörden im Krisenfall austeilen, eine private Bevorratung ist unnütz.

Am Ende bleibt die Hoffnung, daß sich die Aufregung bald wieder legt. Das glaubt jedenfalls die Psychotherapeuten-Kammer Rheinland-Pfalz. „Nach einer gewissen Phase der Unsicherheit hat sich das Kaufverhalten während der Corona-Krise schnell wieder normalisiert.“

Foto: Weizenmehl und Sonnenblumenöl: Die Knappheit beim Mehl geht allein auf Hamsterkäufe zurück, wohingegen die Ukraine der weltgrößte Exporteur von Sonnenblumenöl ist