© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Das Menschliche hinter sich lassen
Transhumanismus konsequent zu Ende gedacht: Der Homo sapiens befreit sich von sich selbst
Dirk Glaser

Unter dem Sammelbegriff Transhumanismus entfaltet sich seit der Jahrtausendwende vor allem im angloamerikanischen Kulturkreis eine vielgestaltige Bewegung, die sich im weitesten Sinne der Optimierung, qualitativen Steigerung und Verlängerung des menschlichen Lebens verschrieben hat. Sämtliche Krankheiten, Einschränkungen, Unzulänglichkeiten und Leiden, die das „Mängelwesen Mensch“ (Arnold Gehlen) quälen und bedrohen, sollen bekämpft und noch in diesem Jahrhundert abgeschafft werden. Körperliche Schwächen, so lautet die frohe Botschaft, ließen sich durch Medikamente oder Prothesen beheben, kognitive oder emotionale Defizite durch smart drugs wie Ritalin oder durch Gehirn-Computer-Schnittstellen ausgleichen. Die Notwendigkeit dieser im Zeitalter der digitalen Transformation medizintechnisch erreichbar scheinenden Verbesserung könnte für Transhumanisten nicht schlagender bewiesen werden als durch die Corona-Pandemie, die den Menschen als bis jetzt nicht sehr effizient reagierendes Opfer eines Proteinaggregats (Sars-CoV-2) von unvorstellbarer Winzigkeit vorführt. 

Für Oliver Dürr, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter des Studienzentrums Glaube und Gesellschaft der Universität Fribourg/Freiburg, lenkt die Pandemie jedoch nicht automatisch Wasser auf die Propagandamühlen transhumanistischer Fortschrittsideologen (Zeitschrift für Theologie und Philosophie 143/2021), stehe das Corona-Management der letzten zwei Jahre doch in scharfem Kontrast zu deren Verheißungen. Erst mit der – freilich auch schon wieder in den Ruch der Wirkungslosigkeit geratenen – Massenimpfung unterscheide sich der Umgang mit dem Sars-Virus von den Abwehrmaßnahmen, die man am Ende des Ersten Weltkriegs gegen die Spanische Grippe ergriff: Abstand, Maske, Hygiene. Daraus folgert Dürr, daß zwischen dem medizinisch Machbaren und der transhumanistischen Utopie einer leidensfreien Gesellschaft noch ein tiefer Abgrund klafft.

Informationstheoretisch sind Menschen wie Computer 

Das ist für die Ultras der Gattung Homo Faber zwar eine ernüchternde Begegnung mit der rauhen Wirklichkeit, dürfte aber nach Dürrs Einschätzung die so offenkundige wie rätselhafte Faszinationskraft ihrer Utopie nicht abschwächen. Denn ungeachtet der Tatsache, daß sich heute nur sehr wenige Zeitgenossen explizit als Transhumanisten verstehen, teilen doch sehr viele deren Wertvorstellungen und hoffen auf praktische Umsetzungen. Zudem sei die Agenda dieser „Progressisten“, nicht zuletzt dank des Eifers publizistischer Multiplikatoren, in der Öffentlichkeit westlicher Gesellschaften zumindest als mit dem neoliberalen Zeitgeist verquicktes „Hintergrundrauschen“ präsent.

Daß diese vor einer Generation nur in esoterischen Futurologenzirkeln gehandelten Sinnstiftungsangebote mittlerweile auf breitere Resonanz stoßen, erklärt sich für Dürr aus dem „spätmodernen Menschen- und Weltbild unserer Gegenwartskultur“. Dieses sei seit der Aufklärungsepoche innerweltlich und immanent konzipiert, betrachte den Menschen durch die Brille eines „reduktiven Physikalismus“, sehe ihn als evolutionär gewordene „Konfiguration von Materie und Energie“, wobei auch diese beiden Elemente schließlich auf den Nenner „Information“ gebracht würden. Alle Wirklichkeit ist darum für diese Ideologie beschreibbar, erfaßbar, verfügbar und manipulierbar als Information. Die Welt besteht aus Prozessen der Datenverarbeitung. Informationstheoretisch sind Menschen also im wesentlichen wie Computer. Und Computer können daher bald im wesentlichen wie Menschen sein. 

Wie eine solche Transformation mit welchem Ziel ins Werk zu setzen ist, darin unterscheiden sich biologische und postbiologische Transhumanisten. Erstere favorisieren für ihr Projekt den biologischen, kohlenstoffbasierten Körper des „alten“ Homo sapiens und wollen ihn entsprechend durch Bio-, Gen- und Nanotechnologien „optimieren“. Dafür käme, neben Drogen zur Leistungssteigerung, lebensverlängernden Diäten und Prothesentechnik, auch eine „erneuerte Eugenik“ mittels Genome Editing in Frage. 

Ist hier das Ziel „nur“ eine radikale Veränderung der Gestalt des Menschlichen, geben sich die postbiologischen Transhumanisten mit derart halben Sachen nicht zufrieden. Für sie ist der menschliche Körper grundsätzlich nicht zu „optimieren“. Ihnen ist daher klar, daß er abzuschaffen ist, Fleisch und Knochen durch robustere Materialien wie etwa Silizium und Stahl zu ersetzen sind. Da auch beim Gehirn im Vergleich mit dem Computer Kapazitätsgrenzen sichtbar würden, könne Künstliche Intelligenz demnächst an seine Stelle treten. Menschlicher Geist ist für Transhumanisten dieses Schlages ohnehin schlicht „Software“, die sich auf ein anderes Substrat wie eben auf eine Festplatte hochladen und damit sogar unsterblich „machen“ lasse – „zumindest solange das Internet besteht“.

Für diese radikale Fraktion ist das Transzendieren, das „Übersteigen“, identisch mit dem Hinter-sich-Lassen des Menschlichen. Für wen der Mensch nur eine Art biologischer Computer, eine Information verarbeitende Rechenmaschine sei, für den sei es nur logisch, ihn durch einen leistungsstärkeren Digitalrechner zu ersetzen, um darin die Erfüllung säkularer Freiheitshoffnungen zu finden. Nicht länger eingesperrt im Körpergefängnis, verwirklicht die unsterbliche Mensch-Maschine endlich die absolute Freiheit individueller Selbstentfaltung und Selbstgestaltung. Insoweit denke der Transhumanismus das neuzeitliche Welt- und Menschenbild nur „konsequent zu Ende“. Denn die „befreiende“ Atomisierung des Individuums, seine Herauslösung aus den hergebrachten Institutionen und kollektiven Identitäten Religion, Kirche, Nation, Staat, Kommune, Nachbarschaft und Familie kommt mit der Abschaffung der Gattung Mensch und damit der Zerstörung seiner letzten Identität wirklich an ihr Ende.

Mit einer Kritik vom christlichen Standpunkt aus begnügt

Es hätte nahe gelegen, anhand einiger prominenter Vordenker wie Ray Kurzweil, des „Chefentwicklers“ bei Google, die ökonomischen Rahmenbedingungen des Transhumanismus zu beleuchten. Doch Dürr begnügt sich mit einer Kritik vom christlichen Standpunkt aus. Für Christen ist der Mensch ein Geschöpf Gottes, das sich selbst auch mittels Künstlicher Intelligenz nicht neu erschaffen kann. Die transhumanistische Selbstermächtigungshybris dürfte daher so scheitern wie der Turmbau zu Babel.

Gleichwohl sei nicht zu verkennen, daß sich christlicher Glaube und transhumanistische Ideologie in einem zentralen Punkt berühren: in der Vision von einer „neuen Schöpfung“, dort gedacht als Reich Gottes, hier als Reich der Superintelligenz, die sich des Menschen entledigt hat. Aufgrund dieser partiellen Übereinstimmung gebe es im angloamerikanischen Sprachraum bereits Annäherungsversuche von christlicher Seite. Eine „theologische Anthropologie des Posthumanen“ oder einen „christlichen Transhumanismus“ halte man dort für möglich, wenn im Prozeß der Menschenverbesserung gewisse metaphysisch notwendige Merkmals der menschlichen Person wie ihre moralische Subjektivität und intersubjektive Beziehungsfähigkeit respektiert würden. Fromme Wünsche.

Zeitschrift für Theologie und Philosophie

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