© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Sonntagnacht, unterwegs in der um diese Uhrzeit jedesmal filmreifen U-Bahnlinie 2, blättere ich im roten Leinenbändchen mit Roland Baaders „Freiheitsfunken II. Aphoristische Impfungen“. Mir schräg gegenüber albern drei laszive US-amerikanische Mädels, die sich – wie auch ich – nicht mehr um den staatlich verordneten Maskenball scheren. Ohnehin bin ich – laut offiziellem Zertifikat – „negativ“ drauf, und inzwischen auch voll „Anti“ eingestellt (also mit komplettem Antikörper-Bild). Kaum sind die drei ausgestiegen, werde ich von einem drahtigen deutschen Denunziantenlümmel mit grauer Maske angeschnauzt, der mindestens drei Meter von mir entfernt sitzt. Wenn ich nicht sofort meinen Mundschutz aufsetze, werde er sich persönlich darum kümmern. Da ich auf seine wiederholten Bemerkungen nicht reagiere, verspricht er mir schließlich, er würde mir gleich „die Fresse polieren“, wenn ich jetzt nicht Folge leiste – da die Überwachungskameras mich automatisch als Delinquenten überführen, füge ich mich widerwillig (und denke auch nicht: „is’ ja gut“), um wenig später im Baader-Band zu lesen: „In jedem Gutmenschen schlummert ein Robespierre.“ 

Verzweifelt bin ich ob des medialen Overkills – „Epoch Times“ und „Demokratischer Widerstand“.

Zugleich zeigt mir diese wiederholte Bereitschaft zur Selbstjustiz, wie real die vielbeschworene „Corona-Diktatur“ ist: ein subkutaner Totalitarismus, der sich im Gewand des Seuchenschutzes nahezu geräuschlos ausgebreitet hat, und das in viel mehr Mutationen, als es das Virus selbst vermag. Allerdings läuft sich der Interessent der gegen den Corona-Maßnahmestaat organisierten „Spaziergänge“ ebenfalls eine Blase: So sei der Krieg in der Ukraine nur inszeniert, um von der drohenden Impfpflicht abzulenken, der wirkliche Aggressor in der Ukraine sei die Nato, die dort Biowaffen-Fabriken betreibe, und der weißrussische Diktator Lukaschenko tue doch nur das gleiche wie die Behörden in Deutschland, die ebenso die Demos verbieten. 


Allerdings: Wer die Schreiben des polizeilichen Staatsschutzes liest, mit der „Captain Future“ unter Hausarrest gestellt wird – weil dieser durch die bloße Anwesenheit angeblich die öffentliche Sicherheit gefährde –, beginnt wirklich an dieser Wirklichkeit zu zweifeln, als erzählte hier jemand vom Mond, wie mir plötzlich auch das Adreßverzeichnis meines iPhones anzeigt: Findet sich doch neben „Captain Future“ nur der Eintrag von „Charles Moss Duke“, Astronaut der Mondmission Apollo 16. Verzweifelt bin ich auch ob des medialen Overkills; die neueste Epoch Times überrascht mit einem Exklusiv-Interview mit Donald Trump, während in der Zeitung Demokratischer Widerstand der ehemalige DDR-Spion im Nato-Hauptquartier Rainer Rupp unter der zynischen Schlagzeile „And the winner is …“ die „US-Kriegstreiber“ zu den Gewinnern erklärt, da sie doch „lange und hart für die russische Militärintervention gearbeitet“ hätten. Auch in mir arbeitet es, sind bekanntlich doch Krieg und Sex die Triebfedern neuer Technologien: „Am besten oben ohne / – eine Flugverbotszone!“ Oder auch: „Putins Generation Z / Findet kein gemachtes Bett.“