© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Von kolonialer Last befreien
Völkerkundemuseum Leipzig: Wie Direktorin Léontine Meijer-van Mensch die ethnologischen Sammlungen neu ordnen will
Paul Leonhard

Die Zugspitze ist 2.962 Meter hoch und damit Deutschlands höchster Berg. Und bis vor kurzem war sie sogar sechs Zentimeter höher. Das behauptet zumindest das selbsternannte „Künstlerkollektiv Para“ anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Reinventing Grassi“ im Leipziger Grassi-Museum für Völkerkunde. Im Auftrag von Léontine Meijer-van Mensch, Direktorin der Völkerkundemuseen in Dresden, Leipzig und Herrnhut, habe man den Felsen mit Hammer und Meißel um eben jene sechs Zentimeter geköpft und als „Geisel“ genommen.

Der Gipfelstein der Zugspitze könne aber ausgelöst und mit den Einnahmen die angeblich bei einem österreichischen Antiquitätenhändler lagernden Reste des Gipfelsteines des afrikanischen Berges Kibo gekauft werden, die der deutsche Forschungsreisende Hans Meyer (1858–1929) nach der 1889 endlich geglückten Erstbesteigung mitgenommen und dem deutschen Kaiser Wilhelm II. verehrt hatte. Gleichzeitig schredderte die Künstlergruppe eine Säule, auf der einst die Büste Meyers stand zum „Rohstoff der Restitution“.

Auf diesem Niveau bewegt sich die „Wiedererfindung“ der landeseigenen Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen (SES), denen die gebürtige Niederländerin Meijer-van Mensch in Leipzig, Dresden und Herrnhut vorsteht. Selbst der sehr bemüht wirkende Gag des „Künstlerkollektivs“ ist nur ein Aufguß: Im Oktober 2013 war auf Youtube ein Video zu sehen, in dem drei Männer und eine Frau einen etwa 25 Zentimeter großen Brocken neben dem Gipfelkreuz abbrechen und in einen roten Rucksack stecken. „Am 21. 10. 2013 um 11.42 Uhr haben wir den Deutschen die Zugspitze geklaut. Sie befindet sich jetzt in Österreich“, triumphierten die Männer und stießen in Tirol mit Bierflaschen an.

Unrechtmäßig erworbene Kulturgüter zurückgeben

Nicht nur aus Sicht des Monopol-Magazins ist diese vom „Künstlerkollektiv Para“ adoptierte Aktion „vordergründig witzig, aber zugleich bitter-ernst“, weil sie „mit einem Schlag das Denken über Besitzverhältnisse und Eigentum bloß“ lege, auch aus Sicht der meisten über die Teileröffnung des Leipziger Museums berichtenden Mainstream-Journalisten. Denn für diese ist alles, was in Völkerkundemuseen insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert angekauft oder als Geschenk angenommen wurde, kontaminiert.

Daß der Geologe und Forschungsreisende Meyer stolz war, im dritten Anlauf endlich den Gipfel des Kilimandscharo bezwungen zu haben, ist beispielsweise für die Süddeutsche Zeitung „klassisches Kolonialherrengehabe“: „Meyer bestieg den heiligen Berg der Einheimischen nicht nur und profanierte ihn damit, er erklärte ihn sofort auch zum neuen höchsten Berg ‘deutscher Erde’.“ Allerdings gibt das Blatt das historische Zitat nur unvollständig wieder. Meyer sprach von „afrikanischer und deutscher Erde“: „Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze“ („Afrikanische Gletscherfahrten“, 1890)

Aber wen interessieren noch Details, die Gründe beispielsweise, die 1897 zur britischen Strafexpedition gegen das durch Sklavenhandel und Unterdrückung seiner Nachbarvölker reich gewordene Königreich Benin führten, das zu diesem Zeitpunkt noch Menschen opferte? Wen interessiert, daß die Briten die aus ihrer Sicht wertlosen Benin-Bronzen nur beschlagnahmten, um diesen traditionellen Menschenopfern endlich Einhalt zu gebieten? Hätten nicht europäische Sammler wie eben der Leipziger Hans Meyer den kunsthistorischen Wert dieser Gegenstände erkannt, würden sie heute nicht mehr existieren.

Meijer-van Mensch wurde 2019 nach Sachsen geholt, damit sie „die Provenienzforschung und den sensiblen Prozeß der Rückgabe von unrechtmäßig erworbenen Kulturgütern weiter vorantreibt“, so seinerzeit Kunstministerin Eva-Maria Stange (SPD). Die Niederländerin setzt seitdem die vom früheren SED-Mitglied Stange in sie gesetzten Hoffnungen mit aller Kraft um: „Wir können jetzt loslegen, um tatsächlich noch 2022 auch die ersten Objekte zurückzugeben.“

Sämtliche sächsischen Völkerkundemuseen gilt es von ihrer kolonialen Last zu befreien. Alles soll zurück an die Ursprungsorte in Afrika, Australien, Ozeanien, Asien, Amerika, weil natürlich all die Kunstgegenstände entgegen dem Willen ihrer einstigen Besitzer in Sachsen gelandet sind. Sogar im eigentlich gar nicht zu ihrem Arbeitsgebiet zählenden Karl-May-Museum in Radebeul bei Dresden wurde Meijer-van Mensch, kaum war sie in den Stiftungsvorstand gewählt worden, fündig und ließ umgehend einen Skalp, der aus der 4.000 Stücke umfassenden Sammlung des Artisten Patty Frank stammte, zurück in die USA repatriieren.

In Leipzig sind die Benin-Bronzen – Sachsen hat mit 301 Objekten, von denen bisher 246 dem Kontext Raubkunst zugeordnet wurden, die zweitgrößte Sammlung in Deutschland – zwar noch im Museum, werden aber nicht mehr gezeigt. Stattdessen wurde der in Nigeria geborene Künstler Emeka Ogboh beauftragt, diese zu fotografieren und die Aufnahmen in Szene zu setzen. Das Ergebnis nennt sich „At the Threshold“ („An der Schwelle“). Ogboh hatte bereits vor Jahren für Aufsehen gesorgt, als er für Meijer-van Mensch Plakate von den Benin-Bronzen mit dem roten Schriftzug „Vermisst“ an sächsischen Haltestellen anbringen durfte – um die Restitutionsdebatte anzuheizen.

Hatte Judith Oexle als sächsische Landesarchäologin und Direktorin des Landesmuseums für Vorgeschichte Dresden ab 1993 bewiesen, wie lebendig die in den Magazinen eingelagerten Schätze – einige waren seit ihrem Erwerb noch nie ausgepackt worden – in Ausstellungen präsentiert werden können und so das Interesse an fremden Völkern bei breiten Massen geweckt werden kann, will Meijer-van Mensch – wie die anderen vor allem weiblichen sächsischen Museumsdirektoren (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister, Deutsches Hygiene-Museum, Stadtmuseum Dresden) – in ihrem gegenderten Neusprech vor allem die jungen Generation Z erreichen, die eher am Betroffenheitsdiskurs als an der Bewunderung der Sammlungsstücke interessiert ist.

Es geht Meijer-van Mensch nicht allein um die Museen im Freistaat, der gesamte Internationale Museumsrat (ICOM) ist ihr zu weiß (Hautfarbe) und zu grau (Haarfarbe) und überdies zu europäisch. Museen sollen ihrer Meinung nach transparenter und diskussionsfreudiger werden und sich auch in politische Diskurse einmischen, der Museumsbegriff global neu definiert werden. Rückendeckung bekommt sie dabei von SKD-Generaldirektorin Marion Ackermann.

Unklar ist indes, wie das neu gestaltete Grassi-Museum für Völkerkunde bei den Nutzern mit seiner neuen Raumstruktur ankommt. Wollen die Besucher tatsächlich den Konservatoren bei der Arbeit zusehen? Erwärmen sich ihre Herzen für die Ende des 19. Jahrhunderts hergestellten Museumsschränke der Dresdner Firma August Kühnscherf & Söhne, die durch ihre Größe und die großen Glasflächen den ausgestellten Objekten erstmals viel Sicherheit vor Staub und Insekten boten?

Steuerbare Telepräsenz-Roboter ermöglichen digitale Besuche

Die wenigen im Zweiten Weltkrieg nicht zerstörten Vitrinen sollen künftig als historische Spiegel der musealen Geschichte zwischen Präsentation, Repräsentation, Aneignung und aktuellen Debatten um die Herkunft der Objekte dienen. Auch das gehört zur Reinszenierung des architektonischen und museal-historischen Erbes. Bleibt die Frage, was die Besucher künftig von den 120.000 im Museumsbesitz befindlichen Stücken – hinter denen, so Kevin Breß, Projektleiter „Reinventing Grassi“, „zu einem hohen Prozentsatz eine Gewaltgeschichte“ stehe – zu sehen bekommen werden, ehe diese Stück für Stück verschwinden? Aktuell sind 120 ausgestellt.

Von Oexle hat sich Meijer-van Mensch abgeschaut, wie man trotz eines laufenden Bauprozesses – Mitte der 1990er Jahre war es das seine Kriegswunden offen zur Schau tragende Japanische Palais in Dresden – exakt an diese temporären Gegebenheiten angepaßte Ausstellungen präsentieren kann. Während man sich aber an der Elbe mit der vorhandenen Raumstruktur arrangierte, wurden an der Pleiße neue geschaffen, indem Wände herausgerissen und Fenster geöffnet wurden. Im Zentrum des Museums wurde ein Raum der Erinnerung eingerichtet, in dem ausschließlich „Communitys“, also „Entsandte von Herkunftsgesellschaften“ im Rahmen von Ritualen „Human Remains“ übernehmen und später rückführen können.

Im „Prep Room“, angelehnt an den gleichnamigen Ausstellungsraum am Museum der Universität von Singapur, könnten Gastwissenschaftler neue Formen des Kuratierens ausprobieren. An einem weiteren Experiment können alle teilnehmen, die zwar auf eine Reise nach Leipzig, nicht aber auf den Museumsbesuch verzichten wollen: Mit Hilfe eines vom heimischen Computer steuerbaren Telepräsenz-Roboters – acht dieser Segways mit Tablet sind verfügbar – kann die Schau besichtigt werden, als wäre man vor Ort, und zwar kostenlos, weil das Programm noch in der Erprobung ist. Natürlich ist diese Neuerung nicht primär für deutsche Steuerzahler gedacht, sondern soll „von Vertreter:innen aus Herkunftsgemeinschaften zusammen mit den Mitarbeiter*innen des Museums digitale-interaktive Depotbesuche und Sammlungssichtungen ohne lange Reisevorbereitungen“ ermöglichen.

Als Netzwerkmuseum auf tagesaktuelle Debatten reagieren

Ziel sei es, das Haus Schritt für Schritt in ein Netzwerkmuseum verwandeln, „welches seine Inhalte transparenter als bisher kommuniziert und dabei verschiedenste Partner*innen einbezieht und zu Worte kommen läßt“, heißt es in der Presseerklärung zur Wiedereröffnung. Projektleiter Breß plant gar einen „Rapid-Response-Bereich“, um auf tagesaktuelle Debatten reagieren zu können. Diese „Neuerfindung“ sei ein Versuch, das ethnologische Museum in die Zukunft zu führen, und werde „von künstlerischen Arbeiten und der kritischen Aufarbeitung musealer Geschichte“ begleitet.

Vielleicht erzählt Meijer-van Mensch dem einen oder anderen Besucher einmal die Pointe zu Meyers Gipfelstein, über die die Potsdamer Neuesten Nachrichten 2008 berichteten: Danach ließ Kaiser Wilhelm II. den ihm durch Hans Meyer bei einer Privataudienz als „Gipfel des Kilimandscharo“ überreichten Lavastein in den Grottensaal im Park Sanssouci integrieren. Als jedoch Anfang der 1980er Jahre Wissenschaftler sämtliche Mineralien bestimmten, stellte sich heraus, daß der vermeintliche Gipfelstein nicht aus Lava bestand, sondern aus Biotitschiefer. Dieses kommt am Kilimandscharo-Massiv überhaupt nicht vor, aber häufig in deutschen Mittelgebirgen.

Weitere Nachforschungen ergaben, daß bei Renovierungsarbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg ein Arbeiter versehentlich den Stein abgebrochen und durch ein ähnliches aussehendes Stück aus dem Schotter vor dem Schloß ersetzt hatte. Damals spendete das Zentrale Geologische Institut Berlin ein anderes Stück Lava aus Meyers Gesteinssammlung aus Deutsch-Ostafrika. Es warten also anscheinend nicht nur Benin-Bronzen, sondern auch noch einige Lavabrocken in Deutschland auf ihren Rücktransport nach Afrika.

Das Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Johannisplatz 5-11, ist täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Besucherservice: 0351 / 49 14 2000

 https://grassi-voelkerkunde.skd.museum/

Foto: Ausstellungsobjekt des Zukunftsprogramms „Reinventing Grassi.SKD“ in Leipzig