© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

„Woke“ Ideologen beherrschen die westlichen Institutionen – wie lautet die konservative Antwort darauf?
Die staatlich-private Chimäre
Björn Harms

Der Krieg in der Ukraine bestimmt in diesen Tagen die öffentlichen Debatten. Doch auch die äußere Bedrohung läßt innerwestliche Realitäten nicht einfach verschwinden. „Wokeness“ – das heißt die Sakralisierung von bestimmten Identitätsgruppen – ist nicht nur in die meisten Institutionen der westlichen Länder eingedrungen, sondern wird mittlerweile auch in vermeintlich progressiven Antidiskriminierungsgesetzen fest verankert.

Insbesondere im anglo-amerikanischen Raum haben sich Herkunft, Geschlecht, Sexualität oder Rasse zu zentralen Qualitätsmerkmalen der „woken“ Staatsapparate, Universitäten und Großunternehmen entwickelt. Die Führungsebenen haben Quoten eingeführt oder führen sie ein; zum einen, weil sie den linksliberalen Studenten und Angestellten gefallen wollen, zum anderen, weil sie sich so auch vor gesetzlichen Haftungen schützen können. Die beliebte Frage danach, ob Universitätsleitungen oder Konzernchefs überhaupt an Vielfaltsversprechungen und Regenbogen-Ideologie glauben, ist dabei zweitrangig. Einige mögen der neuen, bunten Welt sogar mißtrauisch gegenüberstehen. Doch die Konsequenzen sind für Konservative so oder so real.

Die globalisierte Gegnerschaft könnte also kaum größer sein: Nicht nur der Staat und seine Institutionen schirmen sich gegen alles wirklich und vermeintlich Rechte ab. Auch die mutierte Form des Kapitalismus, der „woke“ Kapitalismus, bekämpft aktiv konservative Werte. Die Werbung wird auf Vielfalt getrimmt, Geschlechter sind allerorts bloße Wohlfühlobjekte. Der Mensch soll frei sein, frei von jeglichen kollektiven oder natürlichen Zwängen, frei von jeder Bindung oder Verantwortung und frei von jedem Unterschied. Die großen Medienhäuser fungieren parallel dazu als Claqueure dieser „staatlich-privaten Chimäre“ (Joel Kotkin), während sich die militante Linke als willfähriger Helfershelfer fürs Grobe andient. Zusätzlich folgt eine Migrationswelle auf die nächste, wodurch beständig neue demographische Realitäten geschaffen werden.

Die verzweifelte Ohnmacht, die einen angesichts dieser mächtigen Allianz überfällt, führt auf konservativer Seite zu unterschiedlichsten Reaktionen. Manch einer resigniert und zieht sich in die Innere Emigration zurück. Andere pochen auf ihr Vertrauen darauf, daß die „woken“ Glaubenskrieger übersteuert hätten. „Für jedes Diktat, die Sprache neu zu justieren, (…) werden die Menschen lediglich subversivere Wege finden, um das gleiche zu sagen. Für jeden Versuch, Gymnasien und Universitäten in ‘Wokeness’-Fabriken zu verwandeln, wird es Bemühungen geben, neu anzufangen“, schrieb etwa der liberal-konservative Autor Bret Stephens kürzlich in der New York Times.

Verlassen darauf sollte man sich keinesfalls. Schließlich haben wir es nicht einfach mit ein paar absurden Gedanken zu tun, sondern mit metaphysischen Überzeugungen, die dem Gläubigen das Paradies versprechen. „Wokeness“ dient in einer entgeistigten Welt als Ersatzreligion und nicht nur als rein politisches Programm. Antidiskriminierung, Emanzipation und Gerechtigkeit für alle lauten die Heilsversprechen der Postmoderne, während der Westen selbst, aufgrund seiner vermeintlich unterdrückerischen und rassistischen Natur, zerstört werden soll. Und eines ist sicher: So schnell wenden sich Gläubige nicht ab, selbst wenn sie erkennen, daß ihre eigene Politik zum Scheitern verurteilt ist. Die Fanatiker werden als Teil der „ewigen Linken“ (Ernst Nolte) weiter an ihren Überzeugungen festhalten, da es einen zu mächtigen Impuls in der Menschheit gibt, der auf Gleichheit für jeden setzt.

Der Glaube an eine „bürgerliche Revolution“ (Markus Krall) als Antwort darauf kann gleichfalls ins Reich der Fabeln verwiesen werden. Viele Menschen sind zwar „von Natur aus konservativ, nicht weil sie bestimmten Lehren folgen, sondern weil ihnen klar ist, daß sie für ihre Lebensführung auf Kontinuität und Vorhersehbarkeit angewiesen sind“, stellte einst der US-Konservative Joseph Sobran fest. Das führt jedoch zu einem gewichtigen Problem. Das Temperament der Gefühlskonservativen verleite dazu, „am Status quo festzuhalten, selbst wenn auf lange Sicht die in der Gegenwart herrschende Kräftekonstellation dem langfristigen gesellschaftlichen Wohl unzuträglich ist“, meinte Sobran. Damit könne „selbst ein außenseiterisches Regime“ fast immer „auf das konservative Temperament zählen“.

So kann auch die heutige „woke“ Kulturelite weiter dem Normalbürger vertrauen, obwohl dieser sich im Hinterzimmer seiner Kneipe über die neuesten Absurditäten der Herrschenden belustigt. Auch in der Demokratie gelten eben eiserne Machtgesetze: Gewöhnlich stellt in komplexen Systemen nie die verantwortungsbewußte Mehrheit neue gesellschaftliche Regeln auf, sondern fast immer die intoleranteste Minderheit, wie der Statistiker und Essayist Nassim Taleb richtig analysierte. Dieses Prinzip hat der „moderne Konservatismus“ nicht verstanden. Seine politischen Vertreter im Westen wie Friedrich Merz (Deutschland), Valérie Pécresse (Frankreich) oder Boris Johnson (Großbritannien) haben sich auf ein ideologisches Geflecht zurückgezogen, das mit seinem habituellen Konservatismus und ökonomischen sowie kulturellen Liberalismus unweigerlich scheitern wird. Mit einigem Murren reiht man sich dann doch in das „woke“ Parteienkartell ein.

Selbst nach gewonnenen Wahlen verbleibt jener progressive Konservatismus häufig in der Defensivstellung. Vordergründig mag eine konservative Regierung an der Macht sein, doch die Öffentlichkeit und die Verwaltung des Staates, das Zentrum des ganzen Apparates, wird weiterhin von Linksliberalen zusammengehalten – und damit von „woken“ Grundsätzen. Was den britischen Autor Douglas Murray im Sommer 2021 in seiner Bewertung von Boris Johnsons Amtszeit zur Aussage trieb: „Großbritannien gehört immer noch der Linken. Die Rechte tut nur so, als ob sie es regieren würde.“

Die Angst, den Staat gegenüber dem politischen Gegner in Stellung zu bringen, ist groß, gerade im „anti-woken“ intellektuellen Milieu. Der Psychologe Jordan B. Peterson, der vor wenigen Jahren den Kulturkampf durch seine mutigen öffentlichen Auftritte selbst eingeleitet hatte, erklärte vor wenigen Wochen: „Ein Verbot der ‘Critical Race Theory’ (‘Kritische Rassentheorie’) ist unmöglich und eine schlechte Idee. Alle derartigen Versuche werden nach hinten losgehen. Ideen werden von besseren Ideen besiegt.“ Die naive Hoffnung, der freie Markt der Ideen werde Kinder davor schützen, dem sich an den Schulen breitmachenden Rassismus der „woken“ Glaubenskrieger zu entkommen, mutet in seiner Tatenlosigkeit doch reichlich hoffnungslos an. Und so sind anti-„woke“-Liberale unserer gegenwärtigen materiellen Ordnung gegenüber meist loyal, so lästig oder unangenehm sie deren kulturelle Symptome auch finden mögen. Ihre Kritik gibt keinen Anlaß zu einer politischen Antwort. 

Notwendiger denn je ist in Zeiten wie diesen deshalb der weltanschaulich gefestigte Konservative. Seine Aufgabe besteht darin, dem Gefühlskonservativen „die vorübergehende Notwendigkeit einer Portion Radikalismus klarzumachen, um langfristig unsere Lebensart zu bewahren“, wie Joseph Sobran es beschrieb. Er muß eigene Vorstellungen und Visionen für die Zukunft entwickeln, um die rückwärtsgewandte Museumsmentalität des heutigen konservativen Milieus zu durchbrechen. Die Linken sind durch ihre überall durchscheinende Doppelmoral unerträglich. Sie spielen unfair. Gesetze sind für sie austauschbar, der Rechtsstaat Mittel zum Zweck. Das wissen wir, und in den vergangenen Jahren sind zahlreiche Texte erschienen, die sich in kluger Weise diesem Problem gewidmet haben. Aber was wollen wir? Wohin wollen wir? Reicht es aus, sich auf eine liberale Verteidigungslinie zurückzuziehen, also beständig auf Meinungsfreiheit zu pochen, Diskurse einzufordern und der besseren Idee zu vertrauen? Wohl kaum.

In Zeiten der Globalisierung, in denen der Gegensatz zwischen Liberalismus und Konservatismus immer deutlicher hervortritt, wird der Unschlüssige, der zwischen diesen beiden Polen wandelt, über kurz oder lang in seiner Nische zerrieben werden. Schon der Sozialphilosoph Günter Rohrmoser mahnte an, den Konservativismus stets als „unverzichtbares Gegengewicht zu einem Liberalismus“ zu betrachten, „der ins abstrakt Allgemeine oder auch Universale umkippt“ und einen Individualismus kultiviere, der zur atomistischen Revolution führe. Diese atomistische Revolution sehen wir jeden Tag vor unseren Augen. Der Liberalismus hat die Autonomie des Individuums zu seinem höchsten Gut gemacht. Es gibt auf der unteren Ebene keinerlei Solidarität mehr, keinen Sinn für Gemeinschaft. Geschlecht ist keine biologische Kategorie mehr, das Individuum nur noch ein rein hedonistisches Konsumwesen. Der kulturelle Abriß von Tradition, Gemeinschaft und Familie hat gerade erst begonnen.

Aber haben wir es bei der „woken“ Ideologie nicht mit einer antiliberalen Bewegung zu tun, die dem westlichen Universalismus eine dezidiert stammesorientierte Gemeinschaft gegenüberstellen will? In diesem nur scheinbaren Gegensatz offenbart sich der verwirrende Charakter des herrschenden Zeitgeistes. Denn auf der anderen Seite versucht die Ideologie ja gerade, die grenzenlose Autonomie der individuellen Wahl als ihr heiligstes Prinzip hochzuhalten. Jeder kann das sein, was er will. Jeder kann seine eigene Realität schaffen. Zwischen Antiliberalismus und Liberalismus muß – so seltsam es klingen mag – kein strikter Gegensatz herrschen, zumal es der „woken“ Ideologie ja schlußendlich um eine „Dekonstruktion der konstruierten Identitätsgruppen“ geht. Der spanische Diplomat und Gelehrte Juan Donoso Cortés hat schon im 19. Jahrhundert darüber nachgedacht, wie sozialistische Ideen liberale Prinzipien nur konsequent zu Ende denken. „Wenn die Sozialisten als implizite Konsequenz der Prinzipien der liberalen Schule die Familie verworfen haben und als letzte Konsequenz das Eigentum selbst verwerfen, dann tun sie nichts anderes, als dem arglos von den liberalen Gelehrten begonnenen Werk die Krone aufzusetzen“, schrieb er.

Und so geht die Bedrohung heute eben nicht ausschließlich von „woken“ Großunternehmen aus, wie einige Rechte meinen, und auch nicht ausschließlich von „sozialistischen“ Regierungen, wie Libertäre unken. Zwei nur scheinbare Anta­go­nisten – heute also das Private und das Staatliche – sind längst zu einem gigantischen, alles umfassenden Leviathan verschmolzen, der sich zum Ziel gesetzt hat, jedwede populistische Strömung zu zerstören. Die Technik hat dieser Bestrebung im 21. Jahrhundert weitere, ungeahnte Kraft geschenkt.

Der moderne Konservatismus weiß darauf keine Antwort. Es braucht in der Postmoderne eben „einen ausgleichenden, relativierenden und stabilisierenden Gegenhalt zu einem ins Hypertrophe drängenden Liberalismus“, warnte Günter Rohrmoser. Der „woke“ Zeitgeist wird nicht unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen und sich von selbst auflösen. Er prallt höchstens gegen eine Mauer der materiellen Realität. Tatsächlich könnten sich allmählich Bruchlinien herausbilden, nicht entlang ideologischer, politischer, parteilicher oder gar kultureller Linien, sondern entlang der reinen Kompetenz, die in Zeiten von ethnischen und geschlechtlichen Quoten zweitrangig geworden ist. Dann jedoch muß ein Konservatismus bereitstehen, der sich seines Namens würdig erweist. Denn auch wenn der Umsturz herrschender Orthodoxien immer mehrere Generationen andauert ­– das geistige Rüstzeug kann bereits jetzt festgezurrt werden.






Björn Harms, Jahrgang 1991, ist JF-Redakteur. Er studierte Geschichte, Politik­wissenschaft und Soziologie in Berlin und Dresden und schreibt seit 2017 für die Zeitung, deren Meinungsseite er verantwortet.

Foto: Der alles Populistische verschlingende Leviathan: Eine bloß liberale Verteidigungslinie reicht nicht aus