© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Blau & Gelb und Schwarz & Rot
Die Farben und Symbole der ukrainischen Nationalbewegung der letzten 150 Jahre
Karlheinz Weißmann

Im Jahr 1957 wurde der Maler V. Duzhynski durch ein sowjetisches Gericht zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil er auf einem Gebäude der Universität von Lemberg die ukrainische Fahne gehißt hatte. Ein ähnliches Schicksal erlitten 1966 zwei junge Männer, die die rote Fahne über der Hochschule von Kiew niederholten und ein blau-gelbes Banner mit dem Dreizack und einer Zeile aus der ukrainischen Hymne „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“ aufzogen. Am 27. Juli 1976 standen sich im Semifinale der Olympischen Spiele die DDR und die Sowjetunion gegenüber; die Mehrzahl der sowjetischen Spieler stellte Dynamo Kiew; plötzlich zeigten im Stadion 150 Exilukrainer ein gelb-blaues Transparent mit der Aufschrift „Freiheit für die Ukraine“. Am 26. April 1989, dem dritten Jahrestag der Atomkatastrophe von Tschernobyl, setzte ein Aktivist an einer Straße in Lemberg eine ukrainische Fahne mit dem Dreizack.

Blau und Gelb aus der Fahne der Ruthenischen Garde von 1848

Wie in anderen – vor allem nichtrussischen –Teilen der Sowjetunion blieb auch in der Ukraine die Erinnerung an die eigene Fahne, das eigene Wappen, die eigene Hymne trotz des offiziellen Verbots und der schweren Strafen im Fall der Verwendung erhalten. Dabei handelte es sich in der Regel um recht junge Symbole, die erst im „Völkerfrühling“ des 19. Jahrhunderts entstanden waren, wenngleich man sich bei der Schaffung auf ältere Traditionen bezog. Das galt im ukrainischen Fall vor allem für den tryzub, jenen ornamental ausgeführten, kronenartigen Dreizack, der zuerst 1918 nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches und Gründung der Volksrepublik als Hoheitszeichen eingeführt worden war. Die romantische Interpretation als stilisierter Falken ist sicher abwegig. Sehr viel wahrscheinlicher ist der Rückgriff auf ein Signet des Großfürsten Wladimirs von Kiew, der die Rus christianisierte. Entsprechende Embleme haben sich auf vielen seiner und der Münzen seiner Nachfolger gefunden und sind später als Muster in der ukrainischen Folklore erhalten geblieben, ohne daß ihnen eine politische Bedeutung zukam, bevor sie von der Nationalbewegung aufgegriffen wurden.

Ein ähnlicher Prozeß vollzog sich auch im Hinblick auf die ukrainischen Nationalfarben. Eine während des Revolutionsjahrs 1848 aufgestellte „Ruthenische Garde“ verwendete eine Fahne, die einen steigenden gelben/goldenen Löwen vor einem Felsmassiv auf blauem Grund zeigte. Das Motiv ging auf das Wappen des kurzlebigen Fürstentums Ruthenien, das im 14. Jahrhundert als Nachfolgestaat der Rus auf dem Gebiet Galiziens entstand, und das Wappen des Gebietes um Lemberg im polnischen Großreich der Folgezeit zurück. Auf Grund der komplizierten Herstellung des Bildes hat man offenbar früh nur mehr die Farben Gelb und Blau verwendet, die sich in den ukrainischen Gebieten, die zur Habsburgermonarchie gehörten, rasch großer Beliebtheit als Ausdruck patriotischer Gesinnung erfreuten.

Das erklärt auch, warum in der Endphase des Ersten Weltkriegs mit der vorsichtigen Nationalisierung von Truppeneinheiten Österreich-Ungarns auf Gelb und Blau zurückgegriffen wurde. Die heute übliche Zusammenstellung Blau und Gelb wurde erst nach Gründung eines unabhängigen ukrainischen Staates festgelegt. Der konnte sich in Folge der Niederlage seiner Schutzmacht Deutschland allerdings nicht halten. Sein Territorium wurde zwischen den Nachbarn Polen und Rußland aufgeteilt. Die Annahme, daß die „Ukrainische Frage“ damit erledigt sei, erwies sich aber als falsch. Bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch der ukrainischen Republik war eine „Ukrainische Militärorganisation“ entstanden, die den Untergrundkampf aufnahm. 1929 schloß sie sich mit anderen, kleineren Gruppierungen und exilierten ukrainischen Intellektuellen zur „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) zusammen. Die OUN sammelte Geld in Kreisen der Emigration, betrieb massive Propaganda in Westeuropa und Nordamerika und führte Anschläge in Polen wie der Sowjetunion durch.

Während der 1930er Jahre setzte die OUN-Führung vor allem auf die Unterstützung Deutschlands für die Wiederherstellung eines ukrainischen Staates. Die Erwartungen wurden allerdings regelmäßig enttäuscht. Hinzu kamen interne Spannungen zwischen einer „weißen“, in erster Linie antikommunistischen, und einer nationalrevolutionären Richtung. Die Folge war nach Beginn des Zweiten Weltkriegs die Spaltung in die OUN-M unter der Führung von Andrij Melnik und die OUN-B unter der Führung von Stepan Bandera. Zu den Anhängern Banderas gehörten vor allem die Aktivisten, und bezeichnend war, daß sie neben den traditionellen Farben Blau und Gelb nun auf Rot und Schwarz zurückgriffen, die seit der Jahrhundertwende in der schillernden syndikalistischen Bewegung Mode geworden war, deren Spektrum vom Anarchismus bis zum Nationalismus reichte.

Während die OUN-M an ihrer prodeutschen Ausrichtung festhielt und auch die Aufstellung eines Waffen-SS-Verbandes aus ukrainischen Freiwilligen förderte, kam Bandera, nachdem er auf der Schaffung einer unabhängigen Ukraine beharrt hatte, im Juli 1941 in Gestapo-Haft. Auch das trug dazu bei, daß die OUN-B im Herbst 1942 die „Ukrainische Aufständische Armee“ (UPA) gründete, die rot-schwarze Fahnen führte. Obwohl sie zeitweise bis zu 200.000 Mann umfaßt haben soll und Bandera im September 1944 entlassen wurde, gelang es ihr nicht, den Mehrfrontenkrieg gegen Wehrmacht und Sowjetarmee und zuletzt auch gegen polnische Verbände durchzustehen. Nach 1945 setzte sie ihren zähen Widerstand zwar noch fast zehn Jahre fort, aber nach und nach versiegten ihre Ressourcen.

Fast zehn Jahre kämpften Ukrainer gegen die Sowjets nach 1945 weiter

Bemerkenswerterweise hat die UPA zuletzt die Verwendung von Rot und Schwarz aufgegeben, deren Bedeutung – das rote Blut, das für die schwarze Erde der Heimat vergossen worden war – in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Für die nationale ukrainische Dissidenz wie für das Exil spielten in der Folgezeit als Symbole der Dreizack und die Farben Blau-Gelb die entscheidende Rolle. Nach der Befreiung der Ukraine im Jahr 1990 und der Schaffung eines souveränen Staates wurde ganz selbstverständlich auf sie als Hoheitszeichen zurückgegriffen. Allerdings hat die prekäre Entwicklung in den folgenden Jahren dazu geführt, daß auch die Tradition des „Ukrainismus“ wiederbelebt wurde. Das zeigte sich vor allem während der Demonstrationen auf dem Maidan 2013/14, als Gruppen wie „Der Rechte Sektor“, der „Kongreß Ukrainischer Nationalisten“ (KUN) und die „Ukrainische Nationalversammlung – Ukrainische Nationale Selbstverteidigung“ (UNA-UNSO) mit rot-schwarzen Fahnen aufmarschierten. Doch in erster Linie hat deren Popularität mit der Erinnerung an die UPA und ihren Kampf gegen die sowjetische Unterdrückung zu tun, was auch erklärt, warum jetzt bei den Bürgeraufgeboten immer wieder rot-schwarze Abzeichen auftauchen und im Netz sogar das Bild einer rot und schwarz geschminkten LGBTQ+-Kämpferin kursiert, die sich den homophoben Invasoren bewaffnet entgegenstellt.

Foto: Ukrainischer Dreizack auf der Feier zur Kupala-Nacht bei Saporischja 2020: Rückgriff auf frühes Mittelalter