© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Den Gendarm zur Räson rufen
Krimkrieg 1854 bis 1856: Der frühe Konflikt Rußlands mit dem Westen weist Spuren bis in die heutige Zeit auf
Eberhard Straub

Der Wunsch, Rußland, dies Land der aggressiven Despotie, im Namen der Freiheit, des Fortschritts und der Zivilisation aus Europa zu verdrängen, wurde im 19. Jahrhundert immer wieder von liberalen Ideologen unter englischem Einfluß erhoben. Er wurde am lautesten seit 1853 und während des Krimkriegs von 1854 bis 1856 vorgetragen, als sich zum ersten Mal ein moralisch hochgerüsteter „Westen“ gegen den hinterhältigen „Osten“ vereinte, der nur auf weitere Eroberungen aus sei und deshalb den allgemeinen Frieden störe. Es waren vor allem Briten, und unter ihnen am beharrlichsten Lord Palmerston, die sich mit verwegenen Plänen beschäftigten, wie eine europäische Gemeinschaft den gemeinsamen Feind ihrer Kultur und Lebensweise auf ein Großfürstentum Moskau beschränken und ihn endlich unschädlich machen könne. „Der Osten“ gehört gerichtet, und „der Westen“ darf im Namen der Menschheit und Menschlichkeit richten und rechten, denn er ist im Recht. 

Weder Avantgarde des Westens noch Avantgarde des Ostens

Lord Palmerston plante den Umsturz der europäischen Ordnung, wie sie 1814/15 auf dem Wiener Kongreß vereinbart worden war. Rußland gehörte zu den klassischen Großmächten. Die russischen Zaren Alexander und Nikolaus sahen seit dem Frieden nach dem Sieg über Napoleon ihre Aufgabe darin, Europa vor Unruhen und Unordnung zu bewahren, meist in Übereinstimmung mit dem preußischen König und dem Kaiser von Österreich. Die „drei Adler des Nordens“ fürchteten in den beiden Westmächten Frankreich und England die Störenfriede, die Europa grundsätzlich verändern wollten, ohne überhaupt einen klaren Begriff von Europa zu haben. Franzosen dachten, wenn sie von Freiheit und Zivilisation sprachen, an ihre Bewegungsfreiheit, zu ihrem Vorteil die Grenzen überall verschieben zu können. Briten beriefen sich auf Freiheit und Zivilisation, um in den Staaten zu intervenieren, die etwa auf eigensinnige Gedanken kamen und westliche „Werte“ nicht aufmerksam würdigten, den unentbehrlichen Zierat, um die Nacktheit reiner Interessenpolitik feierlich verschleiern zu können. 

Beide intervenierten in Portugal, in Spanien, in Griechenland, im Osmanischen Reich und auf dem Balkan im Namen der Freiheit, der Menschenrechte und des humanitären Fortschritts und destabilisierten die innere „Verfassung“ dieser Räume und Staaten. Sie sorgten für eine dauerhafte Unordnung. Sie verstanden sich als Erzieher. Die wachsende Unordnung, die Briten und Franzosen dort mit ihren Eingriffen beschleunigten, ließ sie nie an ihrer Mission zweifeln, von Gott und „der Geschichte“ dazu auserwählt zu sein, „Europa und die Menschheit“ allmählich ihrem Vorbild anzunähern und sie zu zivilisieren. Das barbarische, bösartige, um alle Völker zu versklaven seine Knute schwingende Rußland, galt ihnen als der Feind schlechthin. Er mußte ausgeschaltet werden, damit der Freiheit und der Freude schöner Götterfunken als westliches Leuchtfeuer ein für allemal die „asiatischen“ Finsternisse aufklären werde, die von Rußland aus den Frieden erschüttern und allgemeine Angst und Schrecken verbreiten.

Europa muß daher eine rußlandfreie Zone werden! Lord Palmerston, der meist Diplomatie mit studentischem Kampfsport verwechselte, schien es an der Zeit, den russischen Kaiser und die ihm hörigen Russen zu züchtigen. Die Menschheit werde frohlocken, wenn Finnland, die baltischen Staaten, Polen in seinen alten Grenzen, Georgien, Moldawien, die islamischen Staaten und die nach Freiheit lechzenden Völker im Osten hinter dem Ural, endlich des russischen Jochs ledig, sich dem Genuß ihrer lang entbehrten Freiheitsrechte hingeben können. 

Der Befreiungsideologe Palmerston und seine Mitstreiter in London wußten freilich, daß England und Frankreich allein gar nicht dazu in der Lage waren, derartige Veränderungen durchzusetzen. Sie waren darauf angewiesen, um sich eine europäische Gemeinschaft von Schweden bis hinunter nach Italien und Spanien zu scharen, die in einer „westlichen Wertegemeinschaft“ eine Kampfgruppe erkannten, mit deren Hilfe sie ehrgeizige Pläne ihres vorerst noch unbefriedigten Nationalismus verwirklichen konnten. 

Eine umfassende Allianz ließ sich allerdings nur bilden, wenn Preußen und Österreich ihr beitraten und voller Enthusiasmus für ein neues Europa, wie es sich Engländer und Franzosen vorstellten, mit ihren Truppen in Rußland einfielen und die Kriegsschauplätze eroberten, von denen aus Rußland ein für alle Male gedemütigt werden sollte. Preußen verweigerte sich solchen Zumutungen, sicherte die Neutralität des Deutschen Bundes und hinderte Österreich daran, sich der Koalition anzuschließen. Die Mitte Europas kam unter preußischem Druck der Aufgabe nach, die der frühere österreichische Staatskanzler, Fürst Clemens Metternich, für sie vorgesehen hatte, sich weder in der westlichen noch in der östlichen Richtung ins Schlepptau nehmen und „sich als Avantgarde des Ostens gegen den Westen noch des Westens gegen den Osten mißbrauchen zu lassen“.

Die Briten waren äußerst verärgert. Dort regierte schon längst die stets bewegliche öffentliche Meinung, die auf Leidenschaften und heftige Aufregung angewiesen war und einen „Kreuzzug“ forderte. Die systemrelevanten „Öffentlichkeitsarbeiter“ empörte es, daß Preußen und Deutsche als Rußlandversteher sich den hochherzigen Absichten der Freiheitsfreunde verweigerten, den „Gendarm Europas“ – Zar Nikolaus – daran zu hindern, Europa seiner Vorherrschaft endgültig zu unterwerfen. Der Zar verstand sich allerdings gar nicht als Gendarm. Er war ein zuverlässiger und berechenbarer Monarch, hielt sich an Verträge und achtete darauf, daß gerade die immer unruhigen Westmächte das „Concert der Mächte“ nicht durcheinanderbrachten. 

Den erhabenen Schlagworten der liberalen Mode wie Menschheit, Zivilisation oder Freiheit mißtraute er jedoch. Vor allem die kriegslüsternen Propagandisten eines ideologischen Kreuzzugs beriefen sich auf diese. Ein Kreuzzug richtet sich gegen Feinde in der Gesinnung, die als solche für unmoralisch gelten mußten, da es angeblich nur eine Moral gibt, die auf der richtigen Gesinnung beruht. Die Moralisierung der Politik und des Rechtes, die Briten in diesem „ersten Medienkrieg“ vorantrieben, führte unweigerlich dazu, im Feind nicht mehr, wie gewohnt, einen gleichberechtigten Partner anzuerkennen, sondern einen Rechtsbrecher, einen Schurken oder gar Unmenschen, gegen den ein Kreuzzug unbedingt erforderlich ist, wenn es sein muß als Weltkrieg. Das deutete sich damals zum ersten Mal an. Zu dem ersehnten Kreuzzug kam es nicht wegen der am Frieden und der Ruhe Europas interessierten Preußen und Deutschen. Auch wenn die Kriegsführung nicht die Totalität wie Kriege im 20. Jahrhundert aufwies und Militär-Expeditionen begrenzt blieben und damit sogar noch an die Kabinettskriege der Jahrzehnte zuvor erinnerten, nahm die Art der Kriegsführung schon industrialisierte Formen an und beutete erstmals die gesellschaftliche Ressourcen umfassender aus. 

Im Krimkrieg wurde Rußland als Macht des Bösen gedemütigt

Der Krimkrieg als Ersatz für den unmöglichen Großen Krieg mit allen Mächten der Pentarchie wurde zu einem peinlichen Skandal, an den sich die Westmächte bald nicht mehr gerne erinnerten, auch wenn sie offiziell als Sieger vom Schlachtfeld heimkehrten und im Frieden von Paris das in seinem Selbstverständnis erschütterte Rußland mit Gebietsabtretungen am Schwarzen Meer abstrafen konnten. Er war immerhin der erste Krieg von Humanisten, die ihre handfesten Interessen gefühlvoll verkleideten, weil von ihrem Gewissen genötigt, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen. Im Ersten Weltkrieg war das Deutsche Reich der Böse und Rußland als Verbündeter des Westens plötzlich ein wehrhafter Demokrat im Kampf für Frieden, Freiheit und Menschenrechte, die von den neuen Hunnen und Despoten, den Deutschen, bedroht waren. Die rohen und gewaltbereiten Deutschen griffen dann 1917/18 auf die Überlegungen der Westmächte aus dem Krimkrieg zurück, Rußland aus Europa zu verdrängen, nun in ihrem Interesse. 

Polen, die baltischen Staaten, Finnland, Weißrußland, die Ukraine und die Staaten am Kaukasus betrachteten sie als ihre Einflußzone. Im Frieden von Brest-Litowsk, am 3. März 1918, fügte sich die Sowjetunion in diese Forderungen. In Versailles wurde alsbald dieser „Diktatfrieden“ aufgehoben. Doch Frankreich und England hatten sich sofort, als Lenin das Westbündnis verließ, darüber verständigt, wie sie Rußland aufteilen und dort ihre Interessen am besten wahrnehmen könnten. Ihr Verhalten unterschied sich gar nicht von dem der Deutschen. Beide griffen zurück auf die westlichen Überlegungen während des Krimkrieges. Der Friede von Brest-Litowsk ähnelt in seiner geographischen Dimension heute der Ausdehnung der Nato, die Lord Palmerstons Erbe fortsetzen will, Rußland auf eine Regionalmacht einzuschränken. Die westlichen Schwierigkeiten mit Wladimir Putin haben nicht nur mit ihm zu tun. 

Fotos: Franz Alexejewitsch Roubaud, „Die Verteidigung von Sewastopol 1854–1855“, Rundgemälde-Ausschnitt 1905: Das Postulat von Freiheit und Zivilisation als Zierat nackter Interessenpolitik; Englische und französische Truppen kämpfen gegen die Russen, Sewastopol 1855: Zu dem ersehnten Kreuzzug kam es nicht wegen der am Frieden und der Ruhe Europas interessierten Preußen und Deutschen