© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Der Flaneur
Heilige Maria
Claus-M. Wolfschlag

Daniel scheint den Verdacht zu bestätigen. Daß viele sich zwar aus Angst vor gesundheitlichen Problemen zur Impfspritze gegen Corona haben bewegen lassen. Auch Herdentrieb und innerfamiliäre Konfliktvermeidung dürften eine Rolle spielen. Bedeutender aber war der Druck der staatlichen Restriktionen. Probleme am Arbeitsplatz. Probleme beim Ausleben von Freizeitaktivitäten. Die Sorge also, Einschränkungen erleiden zu müssen.  Ein Dasein ohne Urlaubsreisen, Theater- und Kinobesuche, Fitneßkurse, Restaurant-, Bar- und Clubaufenthalte steht dem nur allzu verständlichen Wunsch entgegen, das eigene Leben in vollen Zügen genießen zu wollen.

Und schließlich wirkt die Kraft des Glaubens stärker als jeder wissenschaftliche Beweis.

Gut gelaunt mit Einkaufstasche und einem Eis in der Hand kommt mir Daniel in der Fußgängerzone entgegen. Ein Gruß, doch als ihm dazu die Hand gereicht werden soll, weiche ich zurück: „Vorsicht. Ich habe Corona.“ Daniel erläutert, er habe sich testen lassen, und das Ergebnis sei „positiv“ gewesen. Ein nachfolgender PCR-Test hätte das Resultat bestätigt. Dabei hätte er sich doch zweimal impfen lassen und sei geboostert. Und das auch noch sicherheitshalber gleich mit allen drei gängigen Wirkstoffen: Biontech, Moderna und Astrazeneca.

„So bunt wie die Gesellschaft. Trotzdem hat es nichts gebracht“, denke ich. Doch die Infektion sei jetzt schon fünf Tage her, sagt Daniel, Symptome habe er keine, und er fügt den geflügelten Satz hinzu: „Wegen der Impfung blieb mir ein schwerer Verlauf erspart.“

Ich denke, daß vielleicht ein Anhänger mit dem Bildnis der heiligen Maria einen ähnlichen Effekt hätte haben können. Schließlich wirkt die Kraft des Glaubens stärker als jeder wissenschaftliche Beweis. Dann zieht er schon von dannen.

Einen Tag später führt der Gang vorbei an einem gut besuchten Biergarten. Die Sonne erstrahlt den blauen Himmel, ein zarter Frühlingsduft liegt in der Luft. Junge Leute sitzen dort, essen und trinken Bier und Wein. Und mittendrin sitzt auch Daniel auf seinem Stammplatz. Die Infektion? Er halte ja den obligatorischen Abstand ein  und ziehe beim Gang zur Toilette die Maske auf, sagt er.