© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Taktiker ohne Kompromiß
Der Journalist Thomas Fasbender hat eine bemerkenswerte Biographie des russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgelegt
Albrecht Rothacher

Mit 560 Seiten ist Thomas Fasbenders Putin-Biographie ein magistrales Werk eines ausgewiesenen Rußland-Kenners, der auch für den russischen Sender RT arbeitete. In den ersten 21 Jahren seiner Herrschaft füllen Putin-Biographien – vor allem solche auf englisch und französisch – schon etliche Regalmeter, meist von der kritischen bis hyperkritischen Sorte. Jubel-Hagiographien gibt es natürlich auch. Fasbenders sorgsam mit über tausend Fußnoten, darunter meist russischen Quellen, recherchierte Biographie sucht einen belegbaren, neutralen Kurs zu steuern und hält sich mit unbewiesenen vorschnellen Schuldzuweisungen, die von kleptokratischer mafioser Korruption bis zu terroristischen Massenmorden reichen, zurück. Dies gelingt, weil das Buch sehr lebendig und anschaulich geschrieben ist und ausführlich in die Gedankenwelt und Machtinteressen der Kreml-Herrscher in der aktuellen russischen Innen- und Außenpolitik einführt, auch bemerkenswert gut.

Fasbenders Biographie setzt ein mit Putins Großvater, der auch Lenin bekochte – eine wichtige Vertrauensstellung, denn schon seit Zeiten der Zaren waren und sind politische Giftmorde in Rußland sehr beliebt –, dann sein Vater, der bei der Belagerung Leningrads schwer verwundet wurde und sich dann zum Industrie-Ingenieur hocharbeitete, und schließlich der Filius, der auf den Hinterhöfen des proletarischen Leningrads eher auf die rauhe Art sozialisiert wurde und nach einem Jura-Studium seine KGB-Ausbildung absolvierte. Juri Andropow hatte den Dienst während seiner Ägide von 1967 bis 1982 von einer Folter- und Mörderbande unter Lenin und Stalin zu einer politischen Geheimpolizei professionalisiert. 

In Leningrad betreibt Putin zunächst Spionageabwehr, um dann mit Beginn der Perestroika in die Residentur Dresden versetzt zu werden. Hier fraternisiert er mit der Stasi, hat sogar einen MfS-Ausweis und versucht ihre Offiziere anzuwerben. Heldentaten sind keine überliefert. Im November 1989 werden die Unterlagen verbrannt und geräumt. In Leningrad beginnt ein ungewisser Start, zunächst mit Anwerbeaktionen für den neuen FSB unter den ausländischen Studenten seiner Alma mater. Dann betraut ihn Bürgermeister Anatoli Sobtschak mit der Leitung des Auslandskomitees und macht ihn schließlich zu seinem Stellvertreter. Hier ist er für die Genehmigung von Gemeinschaftsunternehmen mit Ausländern und für Exportlizenzen von Rohstoffen zuständig (die oft für Lebensmittel getauscht werden sollen, die nie ankommen) und kommt über das Glücksspielgeschäft und die Mineralölwirtschaft mit dem organisierten Verbrechen in Kontakt. 

Die „Gretchenfrage“ laut Fasbender: „Hat sich Putin dabei persönlich bereichert?“ läßt sich nicht ohne weiteres beantworten. Doch wurden etliche seiner engen Freunde in der gemeinsamen „Osero“- Datschen-Kooperative damals schon sehr reich. Und es gab die Notwendigkeit für Reptilienfonds für Wahlkämpfe, Kampagnen und verdeckte Aktionen sowie die Gelegenheit für billige Familienurlaube in Spanien und Finnland. Nach Sobtschaks Abtritt (eine Lehre für Putins politisches Leben: Man sollte nie Wahlen verlieren) 1996 machte er im Kreml als immer engerer loyaler Vertrauter von Jelzins „Familie“ eine meteorische Karriere vom Kontrolleur der Kremlverwaltung über den Geheimdienstchef und Ministerpräsidenten bis zum amtierenden, dann gewählten Präsidenten. 

Er beschließt, zuerst mit den Sezessionsumtrieben in den islamischen Regionen Schluß zu machen. Bei der gewaltigen Invasion einiger Dörfer Dagestans des Schamil Basajew und der Bombenserie in russischen Städten im September 1999 gilt laut dem Autor für Putin die Unschuldsvermutung. Das kann man auch anders sehen. Immerhin schießen nach seinem Sieg über die Tschetschenen seine Zustimmungsraten in lichte Höhen. Nach dem Wahlsieg im März 2000 nimmt er als erstes die 89 Gouverneure durch die Stärkung der Machtvertikale an die Kandare, zwingt die Oligarchen Gussinski und Beresowski zum Verkauf ihrer Medienimperien, und schließlich die restlichen Jelzin-Oligarchen zur Unterwerfung. Als der reichste und politisch ambitionierteste unter ihnen, Chodorkowski, das nicht einsehen will und sogar US-amerikanische Firmen an dem Ölunternehmen Yukos beteiligen will, landet er für neun Jahre in einem sibirischen Straflager. 

Es geht Putin um die Schaffung eines starken Staates, um die nationale Kontrolle der Bodenschätze, um die Geschlossenheit und Schlagkraft des Sicherheitsapparates, einschließlich seiner eigenen Präsidialtruppen von 350.000 Mann für innere Einsätze. Gestützt auf seinen engen Freundeskreis aus KGB Zeiten in Dresden und Leningrad sowie Wirtschaftsexperten aus der Sankt Petersburger Stadtverwaltung, die allesamt als neue „Kreml-Oligarchen“ steinreich werden, geht er als Judoka stets taktisch und überraschend vor, selten nach einer großen Strategie. Trotz einiger – eigentlich überflüssiger – Wahlfälschungen hat er dank der „Kremlparteien“ und des Staatsfernsehens immer eine sichere Zweidrittelmehrheit. Gerichtsurteile fallen auch stets nach Wunsch aus. Im Gegensatz zum China nach 2012 toleriert er jedoch weiter eine politische Opposition, einige Dissidentenblätter (vorausgesetzt, sie werden nicht gefährlich), ein relativ freies Internet, Eigentumsrechte, Wissenschafts-, Religions- und Reisefreiheit.

Seit 2001 wuchs stetig die Entfremdung Putins mit dem Westen kulturell wie geopolitisch. Putin beschwor damals zwar noch vor dem Bundestag Deutschland als „das russische Tor zu Europa“, doch die Kameraderie sollte mit dem Abtritt von Schröder 2005 ein Ende haben. Putin verbat sich die ständigen Menschenrechtsbelehrungen und Appelle zu einer universalen Wertegemeinschaft von US-Präsidenten wie Clinton, Bush, Obama (und jetzt Biden), die er als hegemoniale Einmischungen in seinem Hinterhof des post-sowjetischen Raumes sah, dessen Kontrolle er zur Wiedererlangung der russischen Weltgeltung nach und nach durchsetzen wollte. Der Sturz seines Schützlings Janukowitsch in Kiew 2014 trotz massiver russischer Hilfe und seines eigenen Wahl-Einsatzes war für ihn traumatisch. 

Nun sah er fremdfinanzierte Polit-NGOs als gefährliche Berufsrevolutionäre, denen das Handwerk gelegt werden mußte. Der Irakkrieg von 2003 und die Intervention in Libyen 2011 eliminierten wichtige russische Kunden. Dazu kam die Stationierung der amerikanischen Raketenabwehr in Osteuropa, plus die Aufkündigung der ABM- und KSE-Verträge. Im Westen beförderten weder die politischen Morde an Litwinenko, Boris Nemzow und Anna Politowskaja noch die Giftanschläge auf Skripal und Nawalny die Sympathiewerte des Präsidenten, noch der Krieg gegen Georgien 2008, die ebenso völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 oder der Abschuß des Fluges MH-17 mit 298 meist holländischen Urlaubern an Bord durch eine russische Boden-Luft-Rakete im Juli 2014.

Der bald 70jährige Putin zeigt sich nicht länger als Reiter, Jäger, Taucher und Motorradfahrer mit mehr oder minder nacktem Oberkörper. Er hat nach dem Olympischen Spielen von Sotchi 2014 und der WM 2018, die alle seine Oligarchenfreunde aus ihrer Milliardenbeute kräftig sponsern mußten, mit einem Megaschloß am Schwarzen Meer ein neues Objekt für seinen Cäsarenwahn gefunden. Zur Illustration sei allen hoffentlich zahlreichen Lesern dieses großartigen Buches auch der Film „Putins Palast“ von Alexei Nawalny auf Youtube dringend ans Herz gelegt.

Thomas Fasbender: Wladimir W. Putin. Eine politische Biographie. Landt Verlag, Neuruppin 2022, gebunden, 565 Seiten, 30 Euro