© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Alles andere als vernünftig
Der Historiker Volker Reinhardt untersucht das Werk des Philosophen Voltaire. Er offenbart einen genialen Denker und scharfen Polemiker wie auch ein ökonomisches Filou
Eberhard Straub

François-Marie Arouet, der sich später Voltaire (1694–1778) nannte, wurde „der Häuptling seines Volkes“, wie ihn Goethe 1829 gegenüber Eckermann durchaus anerkennend würdigte, nicht weil er besonders originell war, sondern weil er es geschickt verstand, sämtliche Bewegungen des diffusen Zeitgeistes während seines langen Lebens aufzugreifen und sie mit einprägsamen Formulierungen weiten Kreisen plausibel zu machen. Solche Repräsentanten einer allgemeinen Mentalität werden stürmisch gefeiert und schnell vergessen, sobald die Zeiten sich geändert haben und von ganz anderen Ideen beunruhigt werden. Volker Reinhardt, Historiker in Freiburg im schweizerischen Üechtland, bewundert diesen auch in Frankreich kaum noch gegenwärtigen philosophe und möchte andere dazu überreden, sich mit ihm zu beschäftigen und sich gar von ihm begeistern zu lassen.

Denis Diderot bemerkte von Voltaire, daß er in allen Gebieten, in die er eingegriffen hat, immer nur ein zweiter blieb. Das ist gar nicht so abträglich gemeint, wie es klingt. Denn wer mit sämtlichen Naturwissenschaften und Künsten, mit den historischen Disziplinen und philosophischen Überlieferungen halbwegs vertraut ist und dazu bereit, Geschichte und Gegenwart in Tragödien, Komödien, Epen zu deuten oder bei allen Gelegenheiten passende Verse zu liefern, um die vergänglichen Momente zu verewigen, bestätigt unbedingt ein nicht alltägliches Talent. Dem sieht man auch gerne nach, wie sehr er von Zeitgenossen und Vorläufern abhängig ist, die er wegen seiner virtuosen Ausdruckskunst in den Hintergrund drängte, oft allerdings auch mit nicht immer sehr anständiger Polemik, die unmittelbar den Menschen und Konkurrenten verletzen und „erledigen“ sollte.

Voltaire, der Prophet der Toleranz und humanistischen Diskursethik, selten dazu bereit, im Gespräch unvermeidliche Gegensätze freundlich beilegen zu wollen, vertrug keinen Widerspruch und bekämpfte jeden, der seine Meinungen nicht teilte, als persönlichen Feind und damit als Feind der Vernunft, der Klarheit und der Menschlichkeit, die Voltaire mit sich verkörperte. Für ihn gab es nur eine Geometrie, eine Vernunft und eine Moral, da alles, was unvernünftig unmoralisch sein mußte. Wie viele leidenschaftliche Verfechter unbedingter Toleranz wurde er zum Fanatiker, zum Parteigeist und unduldsamen Ideologen. Keine Toleranz den Intoleranten! Es war daher nicht leicht, mit ihm bequem und gut gelaunt zusammen zu sein. 

Fast alle, die geistige Freuden im Umgang mit ihm suchten, wurden rasch enttäuscht. Er war unduldsam, streitsüchtig und oft gar nicht vernünftig. Am besten kamen all jene mit ihm aus, die den persönlichen Verkehr vermieden und sich auf einen Briefwechsel mit ihm beschränkten. Dazu entschloß sich alsbald auch der junge König Friedrich von Preußen, dem die schrecklichen Ungezogenheiten des kolossal bourgeoisen Voltaire sehr bald lästig fielen. Voltaire war alles andere als ein „Kulturheros“, der würdige Lebensart, Eleganz und Anmut verkörperte. Seine Dreistigkeiten und Frechheiten leugnet der enthusiastische Volker Reinhardt nicht.

Voltaire war ein Bürger, stammte aus einer vermögenden Familie und vertraute ganz bürgerlich auf das Geld, auf ganz viel Geld, um vollständig das Glück genießen zu können, das der „liebe Gott“ bürgerlicher Sicherheit denen verspricht, die der von ihm geschaffenen Natur und der von ihm aufgeklärten Vernunft folgen. Wer sich von kirchlichem Aberglauben und der mit ihm untrennbar verbundenen politischen wie sozialen Despotie verführen läßt, der wird ein Objekt entwürdigender Fremdbestimmung und verkümmert in Entfremdung von sich und in der Welt als Fremde, die sich ihm nie als Heimat schenkt. Voltaire war überall ein zweiter, doch er war ein außerordentliches Genie und gerissener Spekulant in allen Geschäften und finanziellen Abenteuern.

Seine Gaunereien erschwerten es dem bourgeois Voltaire – dem bürgerlichen Neureichen – als gentilhomme, als vornehmer Ehrenmann, von Aristokraten anerkannt zu werden, deren Gesellschaft er suchte. Voltaire war ein sozialer Streber, bereit sich allen möglichen geschmacklichen und politischen Forderungen anzupassen, sofern sie ihm nützten, aber zu eigensinnig, die Vorteile angenehmer Konventionen und adlige Tugenden wie Diskretion und Höflichkeit schätzen zu lernen. Die Aristokraten – wirklich tolerant – übersahen seine Unerzogenheit, die für sie ein gelungenes bonmot vergessen machte. Wer sie geistreich zu amüsieren und anzuregen verstand, konnte mit einiger Nachsicht rechnen, aber nicht mit unbegrenzter. 

Voltaire sah sich genötigt, endlich Paris und die große Welt zu verlassen, um seit 1754 am Genfer See ein großbürgerliches Landleben zu führen und sich in dauernder Aufgeregtheit über eine unaufgeklärte Kirche, einen unaufgeklärten Staat, eine unaufgeklärte Justiz und eine unaufgeklärte Gesellschaft zu empören. Er war der erste große Enthüllungsjournalist, dem wie bis heute üblich  die dramatische Inszenierung wichtiger war als die nicht immer übersichtlichen Umstände in der so banalen Wirklichkeit. Höchstens Pedanten störten sich dabei. Voltaire hatte längst die Macht der öffentlichen Meinung erkannt, und in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist konnte er zu einem Meinungsmacher werden, den es auf diese Art vorher nie gegeben hatte. Er wurde als Inbegriff des freien Geistes gefeiert, der sich weder vom Staat noch von der Kirche oder der Universität bevormunden ließ. 

Friedrich der Große, der König, der Politiker und Feldherr, der Praktiker, nahm die aufgeregten Aktionen des Intellektuellen als philosophe keineswegs teilnahmslos zur Kenntnis. Doch Volker Reinhardt verkennt völlig den König in Friedrich dem Großen. Dieser konnte alles zum Anlaß für eine geistreiche Plauderei nehmen, aber sobald er handelte, handelte er als Politiker, als Krieger oder Verwalter. Das gab um 1800 Antoine de Rivarol zu bedenken. „Die Philosophie handelt nicht, sondern redet.“ Als moderner Intellektueller mag sich Volker Reinhardt mit einer solchen realistischen Einschätzung nicht zufriedengeben. Selbstverständlich ist der König, und nicht der Meinungsjournalist, die gestaltende Kraft. Deswegen wird weiterhin vom großen König geredet, an dessen Größe auch Voltaire nicht zweifelte, und kaum noch von dem Dramatiker oder Historiker Voltaire. Er redete und schrieb viel, zu viel, und geriet deshalb als Journalist in Vergessenheit, aus der ihn auch dieser gut gemeinte Versuch nicht zu erlösen vermag.

Volker Reinhardt: Voltaire. Der Abenteurer der Freiheit. Verlag: C.H. Beck, München 2022, gebunden, 605 Seiten, 32 Euro