© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Die Spur führt bis zu Walter Lübcke
Der „Spiegel“-Journalist Thomas Hüetlin spannt den Bogen vom Mord an Reichsaußenminister Rathenau 1922 bis ins Heute: Pediga, AfD und Identitäre stünden in der Tradition der Mörder
Herbert Ammon

Gedenktage inspirieren Verlage und Autoren zur Produktion von Büchern. Mit dem Datum des 24. Juni 1922 – der Tag der Ermordung Walther Rathenaus – titelt das Buch des langjährigen Spiegel-Journalisten Thomas Hüetlin. Sein früherer Kollege Volker Weidemann hat in der Zeit das Buch als „eine großartige literaturhistorische Reportage des Untergangs“ gerühmt. Das Lob ist nicht unberechtigt, insofern das Buch flüssig geschriebene Lektüre bietet. Die Ironie dabei ist, daß der Autor über weite Strecken sowie mit wörtlichen Zitaten aus den romanhaft angelegten, apologetischen Büchern des am Mord beteiligten Ernst von Salomon (1902–1972) schöpft. Zu Recht kritisiert er den Stil des – zum Zeitpunkt des Attentat kaum zwanzigjährigen – von Salomon in dessen Rückblick auf seine Kadettenzeit als „in exaltierten, verqueren Expressionistendeutsch“ geschrieben. Später, in seinem Erfolgsbuch „Der Fragebogen“ (1951), befleißigte sich von Salomon eines ironischen Tons und genoß als „deutschnationaler Entertainer“, so Hüetlin, „den Respekt des Hamburger Medienadels“. 

Hüetlins eigener, journalistisch allzu flotter Stil („Splatter-Abenteuer im Baltikum und in Oberschlesien“) wirkt seinerseits an manchen Stellen aufgesetzt, vor allem dort, wo er den zutiefst tragischen Gang der Ereignisse belehrend kommentiert. Im Nachsatz zu den empörten Worten des Reichskanzlers Wirth nach der Ermordung Rathenaus („Der Feind steht rechts“) heißt es: „Eine späte Einsicht.“ Historisch durchaus erhellend sind die Biographien der älteren Führungsfiguren in der von Hermann Ehrhardt – als illegale Nachfolgetruppe der nach dem Kapp-Putsch aufgelösten „Brigade Ehrhardt“ – von München aus aufgezogenen „Organisation Consul“ (OC). Sowohl Ehrhardt selbst wie auch sein Adlatus Manfred von Killinger – dieser gab den Auftrag zum Mord an Matthias Erzberger  am 26. August 1921 – hatten an der gnadenlosen, als Völkermord eingestuften Niederwerfung des Herero-Aufstandes in Südwestafrika teilgenommen. Statt die Fakten für sich stehen zu lassen, gleitet der Text in vordergründige Ironie ab: „Und als die Bewohner sich nicht mit Freude dem deutschen Wesen, an dem die Besatzer die Welt und Afrika genesen lassen wollten, fügten, beschlossen die Deutschen, die Bewohner auszurotten.“

Von derlei Sätzen abgesehen, vermittelt dieser Stil auch unerwartete Einsichten. Die von von Salomon geschilderten rauschhaften Empfindungen bei Kämpfen gegen polnische Freischärler in Oberschlesien 1921 charakterisiert Hüetlin als „Woodstock mit Maschinengewehren“. Die Szenerie des Terrors – und die Psychologie des Terrorismus – wird erhellt durch Zitate aus „Die Geächteten“ (1930), wo von Salomon über „die Kälte einer unsagbaren Verlassenheit“ spricht. In den Verschwörerzirkeln gab es keine Freundschaft, sondern nur von homoerotischen Anwandlungen geprägte Kameradschaft, durchtränkt mit der Paranoia des Verrats. Erwin Kern, die Führungsfigur im Kreis der Attentäter, drohte dem beim Attentat als Fahrer fungierenden, am Vorabend noch zögernden Ernst Werner Techow mit dem Tod. Spätestens an dieser Stelle hätte eine Bemerkung über Parallelen zu dem aus der „linken“, gleichfalls antibürgerlichen Jugendbewegung von 1968 hervorgegangenen Terrorismus der – weiblich geprägten – RAF nahegelegen. Stattdessen folgt der Autor Klaus Theweleit und dessen in ausufernden Schriften entwickelten Thesen zu der in „Männerphantasien“ begründeten Mentalität aller „Rechten“.

Aufschlußreich ist das Buch bezüglich der Verbindung der nach einem von Ehrhardts Münchner Decknamen („Consul Hans Eichmann“) benannten OC mit dem im Gefolge der blutig zerschlagenen Münchner Räterepublik sowie des – von Hüetlin immerhin als „toxisch“ bezeichneten – Versailler Vertrags aufschießenden Nationalsozialismus. Bekannt ist die Verachtung des Korvettenkapitäns Ehrhardt für den Bierhallenredner Hitler. Zudem stellte Ehrhardt auf Drängen des Freikorpskollegen Ernst Röhm einige Leute zur SA ab und beauftragte den Leutnant z.S. Klintsch mit der Ausbildung der Schlägertruppe. Unter Anleitung Klintschs wandelte die SA die entsprechende Zeile aus dem Ehrhardt-Lied zur „Sturmabteilung Hitler“ ab.

Eindrucksvoll tritt in mehreren Kapiteln die Persönlichkeit Rathenaus hervor. Gebannt von der „Noblesse seiner Erscheinung“ war – laut Hüetlin „trotz seines wütenden Antisemitismus“ – nicht nur der Attentäter Ernst von Salomon. Als hochgebildeter Sohn und Nachfolger des AEG-Gründers Emil Rathenau stach Walther Rathenau vor 1914 im Berliner Kulturleben hervor, stets leidend am Zwiespalt seiner Existenz zwischen assimiliertem, in der Gesellschaft nicht vorbehaltlos akzeptierten Judentum und seinem Selbstverständnis als deutscher Patriot.

Der Untertitel des Buches spannt den Bogen bis in die Gegenwart. Mit einem Zitat des vom Verfassungsschutz beäugten Publizisten Götz Kubitschek in der Überschrift des letzten Kapitels („Unser Ziel ist die Beendigung der Party“) zieht der Autor die Linie vom rechtsradikalen Terrorismus Weimars zum Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke, über Pegida zur AfD und den Identitären. Sofern „rechts“ und „links“ als gleichsam zeitlose Begriffe fungieren, ist die Zuordnung nicht falsch, sie übergeht jedoch die historischen Unterschiede zwischen damals und heute. Immerhin sieht Hüetlin, daß es sich bei den zeitgenössischen Neonazis – anders als bei den Rathenau-Mördern – nicht um „die gefallenen Söhne des Bürgertums“ handelt.

Thomas Hüetlin: Berlin, 24. Juni 1922. Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, gebunden, 304 Seiten, 24 Euro