© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Alter Wein in alten Schläuchen
Eine monumentale Biographie über Houston Stewart Chamberlain fällt hinter den Forschungsstand zurück, um leichter Munition im „Kampf gegen Rechts“ zu liefern
Dirk Glaser

Die im Jahr des Mauerfalls erschienene dritte, ultimative Auflage von Armin Mohlers bio-bibliographischem Handbuch zur „Konservativen Revolution in Deutschland 1918–1932“ konnte sich über den „frühen völkischen Systembauer“ Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) relativ kurz fassen. Denn die Literatur über diesen wahldeutschen Wagnerianer, der an seinem Lebensende noch Adolf Hitler „begrüßt“ habe, war zwar „äußerst umfangreich“ und nur in Auswahl wiederzugeben, stammte aber aus der Zeit vor 1945. Das „erste zulängliche Buch“, das seitdem über Chamberlain auf wissenschaftlichem Niveau informierte, legte 1981 Geoffrey G. Field in New York vor: „Evangelist of Race“. Daß dieses quellengesättigte, bis heute unentbehrliche Werk nicht ins Deutsche übersetzt wurde, verrät viel über die damalige Ignoranz zeithistorischer Forschung. Die wollte weder in der DDR noch in der BRD Genaueres wissen, um sich nicht von der bequemen feuilletonistischen Formel, Chamberlain sei „einer der Erzväter des modernen Rassenwahns“ (Der Spiegel), verabschieden zu müssen.

Dieses Desinteresse schlug in den 1990ern überraschend schnell ins Gegenteil um. Plötzlich überschwemmten Veröffentlichungen zur Ideengeschichte der „radikalen Rechten“ im allgemeinen und über die der „Völkischen“ im besonderen den Buchmarkt. Die seitdem nicht mehr abgekühlte Konjunktur hatte und hat eine simple Ursache: die politisch erzeugte Nachfrage. Das Führungspersonal der Berliner Republik dachte bekanntlich nicht im Traum daran, dem „Rückruf in die Geschichte“ (Karlheinz Weißmann) zu folgen und das wiedervereinigte Deutschland als souveränen Nationalstaat neu zu gründen. Stattdessen wurde mit der Preisgabe der D-Mark unter der Losung „Deutschland schafft sich ab“ (Thilo Sarrazin) Kurs auf den multikulturellen Vielvölkerstaat genommen. Dazu war und ist der unter der linksgrünen Schröder/Fischer-Regierung ausgerufene, aber erst von der CDU-Kanzlerin Angela Merkel auf Hochtouren gebrachte und mittlerweile mit Milliardensummen gemästete „Kampf gegen Rechts“ das ideologische Begleitprogramm. In diesem Rahmen oblag es Scharen williger Historiker, den deutschen Nationalstaat von 1871 als abschreckenden Gegenentwurf zur Berliner Weltbürgerrepublik mit ihrer „einladenden Einwanderungspolitik“ (Annalena Baerbock) in düstersten Kontrastfarben zu malen. Nationalstaat ist Nationalismus und der, dies der einstimmige Gesang einer inzwischen kaum mehr zu überschauenden Literatur zum nationalkonservativen und völkischen Milieu der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, ist gleichbedeutend mit einem geschichtslogisch nach Auschwitz führenden „Vernichtungs- und Ausgrenzungsrassismus“. Darum gilt jetzt auch, bundesverfassungsgerichtlich patentiert seit dem sogenannten NPD-Nichtverbotsurteil von 2017, die Rede vom deutschen Volk mitsamt jeglicher Kritik an Massenmigration und „Großem Austausch“ als untrügliches Indiz „rechtsextremer“, verfassungsfeindlicher Gesinnung.

Seltsamerweise profitierte Houston Stewart Chamberlain, der mit seinen bis 1944 in dreißig Auflagen verbreiteten „Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“ (1899) doch einer der publikumswirksamsten Gestalter des „rassischen Weltbildes“ war, von der Forschungshausse, die der „Kampf gegen Rechts“ befeuerte, zunächst nicht, und Geoffrey G. Fields Monographie blieb lange ohne Konkurrenz. Trotzdem erfreute sich der Schöpfer einer „arischen Kulturutopie“, der die Weltgeschichte auf einen für pazifistisch-postnationale Schneeflöckchen unerträglichen Rassenkampf reduzierte, neuer Aufmerksamkeit. Selbst in den Niederungen des bundesdeutschen Kulturbetriebs. So inszenierte das ZDF 2013 eine wagnersche Familiengeschichte, in der Chamberlain als „liebestoller Intrigant mit einem Faible für Rassefragen“ Cosima Wagner, gespielt von Iris Berben, der Claudia Roth des GEZ-Fernsehens, zu den Klängen des Walkürenritts unter den Rock kriecht. Auf Beifall durfte solcher Schmarren freilich genauso zählen wie die 2017 am Staatstheater Karlsruhe gespielte Oper  „Wahnfried“. Dort führt Cosima als verknöcherte Domina ihren mit dem „bösesten aller Bärte“ drapierten britischen Musterschüler am Halsband spazieren. Und der Kritiker der Welt geriet mit Blick auf die Wahlerfolge der AfD ins Schwärmen darüber, „wie aktuell“ es doch sei, „den fürchterlichen Chamberlain mit seinen brandgefährlichen Hetzparolen“ zu entlarven. 

Jenseits dieser „Abdeckerkultur“ (Hans-Jürgen Syberberg) entwickelte sich indes ein zarter Rezeptionsstrang, der das Klischee vom antisemitischen „Vordenker Hitlers“ wenigstens ansatzweise auflöste. So kam die Linguistin Anja Lobenstein-Reichmann in ihrer ansonsten ganz der politisch korrekten „Dekonstruktion“ verpflichteten „sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtlichen Analyse“ seiner Hauptwerke (2008) nicht umhin, Chamberlain als „hochgebildeten Kulturbürger“ wahrzunehmen, der Kaiser Wilhelm II. und Theodore Roosevelt, Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal genauso beeindruckte wie George Bernard Shaw (die „Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“: „The greatest protestant Manifesto ever written“) und Karl Kraus. 

So weit ging der Wille zur historischen Gerechtigkeit freilich nicht, in diesen illustren Kreis den messianischen Marxisten Walter Benjamin aufzunehmen, der noch 1932 Chamberlains Goethe-Biographie (1912) als die bemerkenswerteste unter allen Darstellungen rühmte, die es mit Goethe als Vorbild zu tun haben. Diesen Zeugen aufzurufen blieb dem Hamburger Politikwissenschaftler Udo Bermbach vorbehalten, der 2015 die erste, 600 Seiten umfassende Chamberlain-Biographie vorlegte, die das vielschichtige Werk des Denkers im Kontext der wissenschaftlichen und kulturpolitischen Debatten seiner Zeit erschließt.     

Bermbachs Arbeit ist so etwas wie der Goldstandard der Chamberlain- und zugleich der Forschung zur völkischen Ideologiegeschichte, die sich nicht mit kurzschlüssiger Reductio ad hitlerum begnügen will. Naturgemäß handelte sich Bermbach mit so viel „Komplexitätssteigerung“ (Hermann Lübbe) den Vorwurf ein, er habe versucht, Chamberlain zu „entnazifizieren“. Und die erstmals Bayreuther Archivalien auswertende, von großem Fleiß zeugende Dissertation von Sven Fritz greift diesen Apologie-Vorwurf nicht nur auf, sie ist geradezu als ein „Anti-Bermbach“ angelegt. Fritz, inspiriert von seinem außer-akademischen Lehrer Hannes Heer, dem einstigen Kurator der Anti-„Wehrmachtsausstellung“,  schlägt daher eine über weite Strecken ermüdende Materialschlacht, um Bermbachs „relativierende“, viel zu „verständnisvolle“, also politisch-pädagogisch kontraproduktive Unterscheidung zwischen dem Bildungsbürger und Gelehrten einerseits, dem im „Kampf gegen Rechts“ so unentbehrlichen „Antisemiten und Rassisten“ andererseits wieder einzuebnen, indem er den obsessiven Judenfeind, der Chamberlain zweifellos auch war, exponiert. Viel Aufwand, um alten Wein in alte Schläuche zu füllen.

Sven Fritz: Houston Stewart Chamberlain. Rassenwahn und Welterlösung. Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2022, gebunden, 873 Seiten, Abbildungen, 49,90 Euro