© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

„Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“
Von Spanien und Deutschland bis nach Vietnam und Afghanistan: Der Journalist Ernst von Waldenfels hat Stimmen von Frauen zusammengetragen, die Leidtragende in den Kriegen des 20. Jahrhunderts waren
Gernot Facius

Verblüffend diese zeitliche Nähe: Am 22. Februar kam ein 273 Seiten dickes Buch über Frauen in Kriegen und Katastrophen auf den Markt, eine Erinnerung an ehemalige Schauplätze der Gewalt in Spanien, Deutschland, Japan, Korea, der CSSR, Vietnam, Äthiopien, Kambodscha, Ruanda, Kolumbien und Afghanistan. Nur zwei Tage später, am 24. Februar, wurde die Welt mit aktuellen Schreckensnachrichten konfrontiert, diesmal aus der Ukraine. Die Parallelen sind nicht zu übersehen.  Wieder zwingt ein Krieg Frauen in eine Opferrolle: als Flüchtlinge, Vertriebene und Evakuierte aus belagerten Städten, die Kinder an der Hand und die alten Eltern im Schlepptau – getrennt von Ehemännern, Brüdern und Vätern. Genau besehen waren die Bilder von Flucht und Vertreibung ja nie weg, sie wurden nur verdrängt. Nun sind sie mit Wladimir Putins Krieg mit Macht zurückgekommen. 

Der von dem Journalisten und Übersetzer Ernst von Waldenfels (Jahrgang 1963) herausgegebene Band „Auf immer gezeichnet“ versammelt ausschließlich Beispiele aus einem Dutzend Großkonflikten des 20. Jahrhunderts und verweist auf Schlaglichter ganz unterschiedlicher Natur. Am Anfang steht der Spanische Bürgerkrieg. Hier waren besonders die Frauen die Verlierer, noch jahzehntelang hatten sie an den Folgen zu tragen. Zu Wort kommt die Tochter eines von den Siegern zum Tode Verurteilten, die in solcher Armut aufwuchs, daß sie erst mit 65 lesen und schreiben lernte. Die Journalistin Barbara Halstenberg hat die Schicksale deutscher Frauen im Zweiten Weltkrieg aufgezeichnet, die für Erfahrungen in all den Massenkriegen stehen können, die sich in der Welt ereignet haben: Bombenhagel, Hunger, Vertreibung und Vergewaltigungen. 

Die Texte spiegeln auch die Zähigkeit und den Erfindungsgeist, mit denen Frauen sich und ihre Kinder durch alle Kriegs- und Nachkriegsschwierigkeiten brachten, auch wenn dieses Faktum nicht unterschlagen wird: Frauen können, genau wie die Männer, Opfer und Täter sein – „manchmal auch beides zugleich“. Arno Surminski, der große in Hamburg lebende ostpreußische Erzähler („Kudenow oder an fremden Wassern weinen“, „Sommer Vierundvierzig“) beschreibt in einem bisher noch unveröffentlichten Text, wie ein Kind die Vertreibung der letzten Deutschen aus der Heimat erlebte und sich dabei in einem Eisenbahnzug nur mit Frauen und Kindern wiederfand. 

Ein anderer Beitrag erinnert an das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Atombombenabwurf über Japan. Vierzig Jahre danach kehrt der amerikanische Schriftsteller John Hersey, der einst einen aufsehenerregenden Bericht über zwei der Überlebenden geschrieben hatte, nach Hiroshima zurück, um zu sehen, wie deren weiteres Leben verlaufen war. Die koreanische Historikerin Im-ha-Lee befaßt sich mit dem Kriegsschicksal der Frauen in ihrem Heimatland. Ihr Buch ist 2004 unter dem programmatischen Titel „Frauen, erstanden aus dem Krieg“ erschienen. Ausgewählt wurde für „Auf immer gezeichnet“ das Kapitel „Die nicht gestorbene Ehefrau“. Es erzählt vom schwierigen Leben koreanischer Kriegerwitwen, die unter den Vorurteilen einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft zu leiden hatten, in der reine Frauenhaushalte als unmoralisch betrachtet wurden. 

In der autobiographischen Geschichte der Vietnamesin Le Minh Khue wird beschrieben, wie sich ein naives Schulmädchen zur Instandhaltung des wichtigsten Nachschubweges der „Nationalen Befreiungsarmee“ meldet und im Bombenhagel der US-amerikanischen Luftwaffe erwachsen wird. Nicht zuletzt widmen sich mehrere Beiträge den psychischen Nachwirkungen von Kriegen und Kampfhandlungen auf Mädchen und Frauen. „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, so hat die weißrussische Nobelpreisträgerin für Literatur, Swetlana Alexijewitsch, ihr Buch über Frauen betitelt, die im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee kämpften. Allerdings, so Ernst von Waldenfels, habe die Entwicklung von Distanzwaffen die Bedeutung von Körperkraft auf dem Schlachtfeld so stark verringert, daß nunmehr auch Frauen als Soldaten eingesetzt werden. Als aktive Teilnehmer im Krieg sind sie trotz allen technischen Fortschritts eine Ausnahme geblieben. Immer noch sind die meisten der Getöteten Männer. 

Was bedeutet das alles für die Situation, die durch den russischen Überfall auf die Ukraine entstanden ist und in „Auf immer gezeichnet“ noch nicht eigens kommentiert werden konnte? Krieg, daran dürfte es keinen Zweifel geben, vernichtet nicht nur Leben, er zerstört auch Lebensperspektiven. Niemand vermag heute zu sagen, wie das Leben in der Ukraine sein wird in den kommenden Jahren. Niemand kann sagen, wann die Geflüchteten wieder zurück in ihre Heimat können. Eine erschütternde Perspektive vor allem für die Frauen, die jetzt aus ihrem Alltag und ihrer zivilen Welt gerissen wurden. 

Ernst von Waldenfels (Hrsg.): Auf immer gezeichnet. Frauen in Kriegen und Katastrophen. Osburg Verlag, Hamburg 2022, gebunden, 260 Seiten, 24 Euro