© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Wut hat ja auch was Positives
Fabian Reicher und Anja Melzer weisen auf die wahren Gründe des islamistischen Terrors: „Neokolonialistische Strukturen“, autoritärer Assimilationsdruck und Rassismus in den westlichen Gesellschaften
Sandro Serafin

Reden wir zuviel über den Islam und seine Gefahren? Haben wir zu viele Islamkritiker in Deutschland und Österreich? Gehen gar unsere Regierungen zu hart mit dem Islam ins Gericht? Der eine oder andere wird sich jetzt bereits fragen, ob man diesen Eindruck überhaupt haben kann angesichts von staatlich organisierten Islamkonferenzen, Fördergeldern für dubiose Islamvertreter und Ignoranz gegenüber den Opfern islamistischer Gewalt. Man kann, wie das Buch „Die Wütenden“ zeigt, das der Österreicher Fabian Reicher in Zusammenarbeit mit der Journalistin Anja Melzer verfaßt hat.

Darin stellt der Sozialarbeiter den öffentlichen Umgang mit islamistischem Terror in Frage und fordert zum radikalen Umdenken auf. Das haben in der Vergangenheit auch Islamkenner wie Hamed Abdel-Samad gemacht. Doch genau gegen diese, die Reicher stets als „Islamkritiker:innen“ in Anführungszeichen bezeichnet, positioniert sich der selbsternannte „linke Sozialarbeiter“ nun. Und mit ihnen gegen einige Medien, Politiker von Macron bis Kurz und große Teile der Gesellschaft – unter anderem, weil sie gerade zuviel Islamkritik übten.

Reicher schildert die Erfahrungen, die er in der Straßenarbeit mit fünf islamistisch radikalisierten Jugendlichen gemacht hat. Jeder Geschichte ist ein Kapitel gewidmet. Es sind Jugendliche, die aus Ländern wie Tschetschenien stammen und sich dann in Österreich für den islamistischen Terror öffneten.

Der Autor legt dar, wie es ihm gelang, die ihm Anvertrauten von dem eingeschlagenen Pfad abzubringen. Er spricht von der „Pädagogik der Wütenden“, deswegen auch der Buchtitel. Die Idee dahinter: Die Radikalisierung sei Ausfluß von Wut. Diese gelte es im direkten Austausch „auf Augenhöhe“ zu identifizieren. Dafür müsse man „in ihre Welt eintauchen“ und einen „intersubjektiven Raum“ schaffen – die Islamisten verstehen sozusagen. Angeblich „autoritäre“ Strukturen, die der Autor sogar in der Schule auszumachen glaubt, sind ihm merklich zuwider. Er will den Dialog.

Und dann? Reicher ist der Auffassung, daß Wut auch einen positiven Keim in sich trage. Die Radikalisierung der Jugendlichen sei Ergebnis eines Aufbegehrens gegen die Ungerechtigkeiten der Welt, einer „Gesellschaftskritik“ gleichsam: „Das Böse resultiert nicht aus der menschlichen Natur“, meint er. Vielmehr würden die radikalisierten Jugendlichen „angetrieben vom Besten der menschlichen Natur“. Insofern gelte es, die Wut nicht abzutun, sondern in „progressive“ Bahnen zu lenken.

Auch wenn Reicher betont, daß die islamistischen Jugendlichen, mit denen er arbeitet, die Verantwortung für ihre Taten selbst übernehmen müßten, so sieht er doch die Ursache letztlich bei den westlichen Gesellschaften, in „neokolonialen Strukturen“, in Assimilationsdruck, „Rassismus“ und „Islamfeindlichkeit“. Das Ursache-Wirkungs-Geflecht, das der Autor darstellt, ist eindeutig: „Die Geschichte vom globalen Dschihad ist als eine Reaktion auf die Geschichte von der Überlegenheit der Weißen entstanden.“ Islamistische Radikalisierung als Ergebnis von Wut, die wiederum unter anderem aus unserem Rassismus folgt – so könnte die Kurzfassung lauten.

Und der Islam? Der werde, so glaubt Reicher, von den Islamisten mißbraucht und falsch ausgelegt. Das Wort „Kulturkampf“ lehnt er ab. Die Scharia sei eigentlich so etwas wie unser Rechtsstaat, und der IS versuche sogar, „die islamische Geschichte zu vernichten“. Wenn westlichen Gesellschaften gegen den politischen Islam vorgingen, spielten sie der Erzählung islamistischer Terroristen in die Hände, wonach der Westen Krieg gegen den Islam führte. Indem er den Faktor des Islams selbst relativiert, universalisiert Reicher das Problem letztlich bis zur Unkenntlichkeit. Der Islamismus ist für ihn kaum mehr etwas Eigenes, sondern eine Spielform von Extremismen, die es auch in unserer Gesellschaft gebe. Dazu nun würde man gerne eine Replik der vom Autor so kritisierten Islamkritiker hören.

Insgesamt läßt sich „Die Wütenden“ zwar gut lesen und bietet interessante Einblicke in die Biographien islamistisch Radikalisierter. Die Thesen indes regen mehr zum Kopfschütteln als zum Nachdenken an. Allenfalls offenbaren sie linke Vorstellungswelten und linkes Denken. 

Fabian Reicher, Anja Melzer: Die Wütenden. Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022, broschiert, 240 Seiten, 18 Euro