© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Wenn allein der Zeitgeist das Selbst diktiert
Der Publizist Alexander Grau untersucht verschiedene Ausformungen des „entfremdeten Lebens“ und rechnet mit den Auswüchsen des Hedonismus und der Identitätspolitik ab
Thorsten Hinz

Was tut der Mensch in der freiesten aller bisherigen Welten, in der die großen Erzählungen auserzählt, die Götter tot sind und alle Regeln und Verbindlichkeiten, die er als Macht- und Unterdrücker-Strukturen bekämpft hatte, sich verflüssigt haben? Wohin begibt er sich, wenn die äußeren Realitäten, von denen er sich unterworfen, entfremdet wähnte, die ihn von dem, was er „eigentlich“ zu sein meinte, weggeführt hatten, nur noch Schatten einer überlebten Vergangenheit sind? Er macht sich auf den Weg, um endlich sein unverfälschtes Selbst, seine Identität, das „Utopiepotential in eigener Sache“ zu verwirklichen. Doch nach wenigen Metern bereits befällt ihn die Furcht, daß er am Ende des Wegs gar nichts oder etwas vorfindet, das ihn beschämt. Also hält er Ausschau nach Hilfe, und siehe da, „ganze Industrien leben davon“, ihn bei seiner Identitätssuche zu begleiten. Sie raten und erklären ihm, wie er sich richtig kleidet, gesund ernährt, Körper und Geist auf Vordermann bringt, welche Musik, welche Urlaubsorte, welche neuen Trends und Moden angesagt sind. Es entsteht ein „Selbstentwurf allein aus dem Zeitgeist und den persönlichen Vorlieben heraus“, der kaum belastbar und auf den Beifall anderer angewiesen ist. Die Entfremdung ist nicht überwunden, sie ist noch tiefer in das Selbst eingedrungen.

Es ist ein miserables Zeugnis, das Alexander Grau in seinem flüssig geschriebenen, pointierten Essay dem modernen Menschen ausstellt. Grau hat sich mit seinen wöchentlichen Kolumnen im Cicero als origineller Publizist und Zeitdiagnostiker einen Namen gemacht. Bei der Analyse politischer und gesellschaftlicher Konflikte und Alltagsphänomene beschränkt er sich nicht auf Oberflächenbeschreibungen, sondern legt psychologische, historische und philosophische Tiefenschichten frei.

Marx hatte gemeint, die Abschaffung des Privateigentums würde in eine Gesellschaft führen, in der die Freiheit des Einzelnen die Bedingung der Freiheit aller sei. Der Praxistest mündete in eine Katastrophe. Freud identifizierte die Entfremdung in der menschlichen Psyche, in abgespeicherten, traumatischen Begebenheiten, denen man therapeutisch beikommen könne. In der Folge hat sich der Typus des greinenden, im Stadium der Infantilität verharrenden Individualisten verbreitet, der, statt Verantwortung und Selbstverantwortung zu übernehmen, auf der Suche nach Schuldigen ist. Zum Erwachsensein gehöre nun mal, so Grau, die Zerrissenheit zu akzeptieren, denn die Entfremdung ist eine existentielle Kategorie. Schon indem der Mensch aus der Natur heraustritt, entfremdet er sich von ihr und steht in einem reflexiven Verhältnis zur Welt.

In fünf Kapiteln und einem Epilog handelt der Autor unter anderem den Hedonismus, den Massenkonsum, den sich „moralisch gerierenden Ahistorismus“, die Verlorenheit an eine künstlich mit Bedeutung aufgeladene Warenwelt ab. Das Streben nach Authentizität verfängt sich in einem engmaschigen Netz aus Terminen, Verpflichtungen, Werbe- Suggestionen und Anpassungsleistungen. Narzißtische Selbstgefälligkeit determiniert die Politik. Die Dialektik der Aufklärung schlägt Purzelbäume, Offensichtliches wird als Vorurteil verleugnet, weil es rassistisch, minderheiten- oder emanzipationsfeindlich sei. Zu Graus Gewährsleuten zählen Gehlen, Kondylis, Sieferle und Spengler.

An einigen Stellen möchte man Widerspruch anmelden, zum Beispiel, wenn der Autor Josef Beuys’ Satz, jeder Mensch sei ein Künstler, für den Größenwahn der unwissenden Selbstverwirklicher mitverantwortlich macht. Der Beuys-Biograph Heiner Stachelhaus hat schon vor 35 Jahren klargestellt, daß Beuys keiner asozialen Lebenskunst das Wort redete, sondern die Anwendung kreativer Fähigkeiten in der Profession, in der „menschlichen Arbeit schlechthin“, im Blick hatte.

Die Entfremdung ist in der Welt, es kommt darauf an, sich nicht von ihr überwältigen zu lassen. Im Epilog beschwört Grau in der Nachfolge des Waldgängers Ernst Jünger die „Einsamkeitsfähigkeit“ des Individuums. Er weiß, daß nur die wenigsten sich physisch aus der Welt zurückziehen können. Rückzug heißt daher vor allem permanente Arbeit, in der man die verführerischen Mystifikationen zurückweist, mit denen die Entfremdung sich tarnt, um uns von innen zu okkupieren. Graus Essay bietet dafür eine kluge Anleitung.

Alexander Grau: Entfremdet. Zwischen Realitätsverlust und Identitätsfalle. Zu Klampen Verlag, Springe 2022, gebunden, 128 Seiten, 14 Euro