© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Appeasern die Leviten gelesen
Fast prophetisch kündigt ein Autorentrio westlicher Militärexperten die derzeitige Kriegspolitik Rußlands an und beklagt die „gewollte Wehrlosigkeit“ vor allem der Deutschen
Michael Dienstbier

Das einzige, was an der vorliegenden Analyse veraltet ist, ist der Titel. Ansonsten handelt es sich bei „Future War: Bedrohung und Verteidigung Europas“ um das Buch der Stunde. Das Autorentrio – zwei hochrangige US-amerikanische Militärs außer Dienst und ein britischer Verteidigungsexperte – formulieren zu Beginn die These, daß die Corona-Krise zu einer Beschleunigung von verteidigungsrelevanten Tendenzen führen werde, die sich bereits zuvor abzeichneten. Mit großer Sorge blicken die Autoren auf Europa, welches im Zentrum des Buches steht. Das Fazit von Julian Lindley-French, John R. Allen und Frederick Ben Hodges läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Europa ist in seiner derzeitigen Verfassung nicht verteidigungsfähig und auf die Kriege der Zukunft nicht vorbereitet. An Deutschland lassen die Autoren kein gutes Haar und überziehen es durchgehend mit sanftem Spott. Die größte Bedrohung lokalisieren sie an der Ostflanke der Nato in Gestalt eines expansionswilligen Rußlands.

Die englischsprachige Originalausgabe von „Future War“ erschien im Juni 2021, die deutschsprachige am 21. Februar 2022, drei Tage vor Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine. Ein im Buch beschriebenes zukünftiges Kriegsszenario wurde an diesem Tag Realität. Und so liegt der Fokus in diesen Tagen besonders auf dem dritten Kapitel „Rußland und die Nord- und Ostflanken Europas“. Die Genauigkeit, mit der die Autoren die aktuellen Entwicklungen antizipieren, ist frappierend. Putin wird als „strategischer Opportunist“ charakterisiert, der seine „zynische Machtpolitik“ weiterbetreiben werde, da sie zentraler Teil der russischen strategischen Kultur sei. Putins Erfolge der vergangenen Jahre, so die Autoren, liegen aber vor allem in der Schwäche Europas begründet. Hier sei man unfähig zur Formulierung eigener Interessen und betreibe eine „moderne Form von Appeasement-Politik“, die einen großen Krieg herbeiführen könne. Europa, so der flehentlich vorgebrachte Appell am Ende des Kapitels, müsse sich dringend auf einen russischen Angriff vorbereiten: „Denn wenn die Russen zu einem entschlossenen militärischen Angriff auf die Ostflanke Europas ansetzen würden, ist kaum vorstellbar, daß sie scheitern würden.“

Die Lektüre des Buches lohnt aber nicht nur wegen der zutreffenden Vorhersagen der Autoren Rußland betreffend. Allgemein sehen sie in der „5-D-Kriegsführung“ die Zukunft militärischer Auseinandersetzungen: Desinformation, Deception (Täuschung), Disruption, Destabilisierung, Destruction (Zerstörung). Als sechstes D fügen sie „Disease“ hinzu, also den gezielten Einsatz absichtlich herbeigeführter Krankheiten. Die Nato müsse sich auf diese hybride Kriegseinführung einstellen, um gegen Rußland und China bestehen zu können, die sich in diesen Bereichen bereits einen Vorsprung erarbeitet hätten. Die Autoren sind glühende Trans-atlantiker, die die strategische Bedeutung Europas für das gemeinsame Verteidigungsbündnis betonen. An den Europäern selbst jedoch verzweifeln sie. Europa, so stellen sie kühl fest, sei von der Sicherheitsgarantie der USA unter dem gemeinsamen Dach der Nato abhängig. Jedoch weigere sich der Kontinent, sein Militär so zu finanzieren, daß es in der Lage ist, Bündnisverpflichtungen zu erfüllen. Als negatives Beispiel wird vor allem Deutschland erwähnt. Das Land sei nach dem Zweiten Weltkrieg so „gründlich entnazifiziert“ worden, so die Autoren spottend, „daß viele Deutsche bis heute den Wert einer von den USA unterstützten europäischen Verteidigung mit Skepsis betrachten.“ Besser kann man die bei uns weit verbreitete Mischung aus moralischer Überlegenheitsattitüde und gewollter Wehrlosigkeit kaum auf den Punkt bringen.

Voraussetzung für eine wirksame Verteidigung Europas sei eine politische Integration des Kontinents. Hier gehen die Verfasser nicht ins Detail. Es klingt jedoch so, als würden sie für eine weitreichende Zentralisierung plädieren, die auch eine Übertragung militärischer Souveränitätsrechte auf die supranationale Ebene beinhaltet. Hier ist zu bezweifeln, ob dies dem Ziel wirklich zuträglich wäre, ganz abgesehen davon, daß außer Deutschland kein europäisches Land zu diesem Schritt bereit ist. Eingerahmt ist das Buch von zwei fiktiven Szenarien – einem positiven, einem negativen – über die Lage Europas im Jahre 2030. Dieses Stilmittel ist Geschmackssache, wobei man allerdings nur hoffen kann, daß die Autoren mit ihrem Worst-Case-Szenario dieses Mal nicht recht behalten. Dieses endet mit der Einnahme des Baltikums durch Rußland. „Future War“ liefert einen kühlen strategischen Blick auf die Welt, wie sie ist, verbunden mit konkreten Empfehlungen zur Selbstbehauptung Europas. Daß diese keine Selbstverständlichkeit ist, ist spätestens am 24. Februar 2022 jedem bewußt geworden.

Julian Lindley-French, John R. Allen, Frederik Ben Hodges: Future War. Die Bedrohung und Verteidigung Europas. Langen-Müller Verlag, München 2022 gebunden, 416 Seiten, 34 Euro