© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Bedeutsam unzeitgemäß
Der Germanist Hartmut Fröschle widersetzt sich mit seiner Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins der grassierenden Entledigung jeder nationalen Fundierung
Günter Scholdt

Hartmut Fröschle, der dreißig Jahre an der Universität Toronto Germanistik lehrte und nach seiner Rückkehr nach Deutschland einen schmerzlichen Kulturschock erlebte, hat ein Buch über die Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins geschrieben. Ein unzeitgemäßeres Thema scheint kaum denkbar angesichts der hierzulande grassierenden Tendenz, sich nationaler Fundierung fast gänzlich zu entledigen zugunsten diverser uns periodisch befallender Agenda-Wellen einer ausschließlich globalen Gefühlsbesoffenheit. Doch vermutlich zeichnet es Charaktere und Bücher eher aus, Themen zu behandeln, die der Zeitgeist für obsolet erklärt, wie ein Kölner Gericht gerade mal wieder schlagend bewies. 

Fröschles Buch bietet auf gut 160 Seiten einen Schnelldurchgang durch gut 1.900 Jahre, seit sich Tacitus erstmals über die Germanen ausließ. Uns erwartet eine faktenreiche Analyse der Problematik anhand folgender Kapitel: „Genese des deutschen Volkes“, „Nation und Imperium im Mittelalter“, „Humanismus und Glaubensspaltung“, „Die Endphase des Reiches. Aufklärung und Klassik“, „Fremdherrschaft und Befreiung. Die Romantik“, „Der Deutsche Bund. Vormärz, Nationalversammlung, Einigungskriege“, „Das Kaiserreich“, „Republik und Diktatur“, „Das besiegte Deutschland. BRD und DDR“, „Berliner Republik“. 

Politikgeschichte verbindet sich dabei mit derjenigen von Sprache und Literatur. Und zu allem hat der Autor Substanzreiches zu sagen. Zahlreiche Klassiker-Zitate belegen seine intime Kenntnis des Gegenstands und künden vom Herzblut, mit dem frühere Kulturgrößen sich der Problematik widmeten: von Walther von der Vogelweide über Ulrich von Hutten und Andreas Gryphius bis zu Klopstock, Goethe, Schiller, Hölderlin und etlichen anderen wie Thomas Mann. Wo Klassiker heute vorwiegend ihrer übernationalen Impulse wegen gefeiert werden, präzisiert der Verfasser, daß es ihnen niemals um ein Entweder-Oder ging. Die „Xenien“ polemisieren zwar gegen vergebliche nationalstaatliche Anstrengungen zugunsten von Freiheitserziehung. Zugleich aber erläuterte Schiller etwa Körner (im Brief vom 28. November 1791) seine Absicht, ein großes episches Nationalgedicht für die Deutschen zu schaffen. Denn kein Schriftsteller, „so sehr er auch an Gesinnung Weltbürger sein mag“, werde „in der Vorstellungsart seinem Vaterland entfliehen. Wäre es auch nur die Sprache, was ihn stempelt, so wäre diese allein genug, seinem Produkt eine nationale Eigentümlichkeit zu geben.“ 

Es fehlt der Raum, um etliche reizvolle Textfunde zu präsentieren, die trotz der behandelten Stoffülle Platz fanden: Äußerungen von Staatsmännern wie Scheidemann, Stresemann, Lloyd George oder auch Sefton Delmer, britischer Chefpropagandist im Krieg, der zuvor aber für heutige geschichtsschreibende Stereotypeure ein fast unvorstellbares Urteil fällte. Deutschland, das bald ausschließlich mit Terror, Gestapo, Massenmord oder Kriegsverbrechen identifiziert wurde, erschien ihm im früheren Blick nämlich ganz anders. Geprägt von mentalen Reaktionen, die von der Wucht des sozialen und ökonomischen Umbaus zeugten und gewiß ihr Verführerisches hatten: „Man mag heute darüber sagen, was man will. Deutschland war im Jahre 1936 ein blühendes, glückliches Land. Auf seinem Antlitz lag das Strahlen einer verliebten Frau. Und die Deutschen waren verliebt – verliebt in Hitler (…) Und sie hatten allen Grund zur Dankbarkeit. Hitler hatte die Arbeitslosigkeit bezwungen und ihnen eine neue wirtschaftliche Blüte gebracht. Er hatte den Deutschen ein neues Bewußtsein ihrer nationalen Kraft und ihrer nationalen Aufgabe vermittelt.“ 

Delmers Einschätzung resümiert gewiß nicht Fröschles retrospektive Endbilanz. Aber das Zitat charakterisiert sein Bemühen, Geschichte verstehbarer zu machen. Je näher wir der Gegenwart kommen, um so stärker fährt das Buch auf Gegenkurs zu unseren Staats- und Hofhistorikern. Dabei bleibt es sachlich und argumentiert ohne Eifertum. Zudem ist es – was heute Hervorhebung verdient – verständlich geschrieben, jenseits der terminologisch überlasteten Geheimsprache, die sich als „wissenschaftlich“ drapiert. Allenfalls seine Ausführungen zur Berliner Republik verraten Schärfe, reagieren auf den Dekonstruktion gepolten Nationalmasochismus „unserer Elite“. In diesem Sinne liest sich seine Zitierung von Theodor Storm als Fazit der Gegenwart. Hatte der Husumer Dichter sich doch kritisch mit jenen Deutschen beschäftigt, die „zum Volk nicht gehören“ wollen: 

„Und was für Zeichen am Himmel stehn, Licht oder Wetterwolke, Sie gehen mit dem Pöbel zwar, Doch nimmer mit dem Volke.“ 

Hartmut Fröschle: Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins. Landt Verlag, Neuruppin 2022, gebunden, 168 Seiten, 20 Euro