© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Über die Kritik hinaus
Mehr und mehr „anti-woke“ Liberale erheben ihre Stimme gegen die Auswüchse der modernen Identitätspolitik – doch ihre Argumentation weist Schwächen auf
Björn Harms

Mit der Zunahme der „woken“ Absurditäten in den USA regt sich seit geraumer Zeit vermehrt Widerstand dagegen – nicht nur beim einfachen Bürger, sondern auch im intellektuellen Milieu. Nach und nach dringt das Thema weiter in den Mainstream, da nicht mehr nur Rechte und Konservative gegen die fanatisierte Linke polemisieren, sondern auch „anti-woke“ Liberale ihre Stimme erheben. 

Eine der neuesten Veröffentlichungen aus dieser Richtung stammt von dem Linguistik-Professor John McWhorter, der in New York an der Columbia University lehrt und einer der ersten Intellektuellen war, der in den vergangenen Jahren vor dem aufkommenden „woken“ Rassismus der modernen Linken warnte. Der 56jährige kann die Irrheiten der „woken“ Aktivisten frei heraus und ohne Angst scharf anprangern: „Wäre dieses Buch von einem weißen Autor geschrieben, würde es ungeniert als rassistisch verurteilt“, meint der schwarze Sprachwissenschaftler. Er jedenfalls wolle nicht, daß seine Tochter in dem Glauben aufwachse, stets Opfer eines strukturell-rassistischen Systems zu sein.

In seinem Buch beschreibt McWhorter die „woke“ Ideologie als eine Form der Religiosität: „Die Erwählten“, wie er sie treffend beschreibt, haben ihre eigene Liturgie. Sie glauben an die Erbsünde des weißen Privilegs (white privilege) und seines systemimmanenten Rassismus, der weißen Kindern schon in der Schule eingetrichtert werden soll. Die Fanatiker exkommunizieren Ketzer via „Cancel Culture“. Sie haben einen hierarchischen Klerus aufgebaut, der aus Hohepriestern wie der „Critical Race Theory“-Professorin Kimberlé Crenshaw besteht, aus populären Wanderpredigern wie den Aktivisten Ibram X. Kendi oder Robin DiAngelo und gewöhnlichen Pastoren wie dem durchschnittlichen Gleichstellungsbeauftragten am Arbeitsplatz. Und weil ihr Glaube so messianisch ist, sind sie wild entschlossen, ihn dem Rest von uns aufzudrängen.

Doch McWhorters Buch – beziehungsweise die deutsche Übersetzung – birgt auch eine merkwürdige Ironie: Ein explizit „anti-wokes“ Buch weist zahlreiche „woke“ Sprachverstümmelungen auf. Nicht nur wird beharrlich gegendert („Lehrer und Lehrerinnen“). Auffällig ist vor allem die grammatikalisch falsche Nutzung des Adjektivs „schwarz“. Während im Text das Adjektiv „weiß“ durchgehend klein geschrieben wird („weiße Personen“), beginnt die Beschreibung „schwarz“ stets mit einem großen S („Schwarzes Amerika“). „Woke“ Ideologen setzen das großgeschriebene „S“ bewußt, „um eine sozio-politische Positionierung in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsordnung zu markieren“, wie es in einem Wörterbuch der Berliner NGO „Diversity Arts Culture“ heißt. In den USA bedienen sich längst fast alle großen Zeitungen dieser Schreibweise. Müßig zu erwähnen, daß auch hierzulande beispielsweise die Bundeszentrale für politische Bildung darauf zurückgreift.

McWhorter selbst nutzt das „große S“ in der englischsprachigen Ausgabe zwar nicht, erklärte jedoch Anfang März in einem Essay in der New York Times: „Ich finde es in Ordnung, daß andere die Großschreibung von ‘Schwarz’ akzeptieren. Vielleicht werde ich das auch eines Tages tun.“ Und in dieser Gleichgültigkeit liegt genau das Problem. Über ihre Kritik kommen Liberale wie McWhorter kaum hinaus, direkte Konfrontationen werden vermieden. Sie bleiben stets ewige Begleiter des Zeitgeistes, ohne in die Geschehnisse einzugreifen. Dabei übersehen sie eines: Die „woke“ Ideologie ist kein unmittelbarer Gegenspieler des Liberalismus, sondern eine tragende Säule der momentanen Verhältnisse. 

McWhorter beschreibt selbst in sprachlich brillanter Form, wie Lehrer, Professoren, Kolumnisten, Meinungsforscher und Konzernchef, pausenlos und freiwillig die „woke“ Sache vorantreiben, erwähnt jedoch nicht, daß eben jene Personen eine unterstützende Funktion der bestehenden Strukturen innehaben. Sie sind das, was die Psychologen John und Barbara Ehrenreich einst die „Professional-Managerial Class“ (Berufs-Manager-Klasse) nannten. Personen also, die auf die eine oder andere Weise den Herrschenden dienen. Wenn „Wokeness“ die materiellen Interessen der heutigen Unternehmensklasse untergraben würde, wären die Ideen schon morgen ausgelöscht. Und die großen politischen Stiftungen – ob in Deutschland oder den USA – würden nicht fortwährend Finanzmittel in die entsprechenden Lobbygruppen und Organisationen stecken.

Einen tieferen Einblick in die Ideologiegeschichte „der Erwählten“ bietet das Buch „Zynische Theorien“ von Helen Pluckrose und James Lindsay, die 2017 durch ihre ausgedachten Studien bekannt wurden, die sie in wissenschaftlichen Fachzeitschriften unterbrachten (JF ??/17). Die Kulturautorin und der Mathematiker tun das, was Konservative oft vermissen lassen: eine ausführliche Lektüreanalyse des politischen Gegners betreiben. Ausführlich wird dargestellt, wie aus der Postmoderne um Denker wie Michel Foucault oder Jacques Derrida neue Theorien entstanden, die heute den liberalen Westen bedrohen. Eine derart detaillierte ideengeschichtliche Auflistung von Queer-Theorie, „Critical-Race“-Theorie, Gender Studies oder Fat Studies gab es im deutschsprachigen Raum bislang nicht, so daß die Lektüre für jeden Einsteiger in die „woke“ Theoriewelt nur dringend empfohlen werden kann. 

Doch auch bei Pluckrose und Lindsay finden sich die üblichen Probleme in der Herangehensweise der „anti-woken“ Liberalen. In ihren Augen ist alles Ideologie – nur eben ihre eigene Ideologie nicht. Konservative und Linke sind laut Pluckrose und Lindsay gefangen in ihrer Weltanschauung, der ein aufgeklärter Liberaler die Prinzipien Vernunft und Rationalität entgegensetzt. „Illiberale Methoden zur Bekämpfung“ des „woken“ Problems sind deshalb natürlich „bestenfalls unangemessen und schlimmstenfalls falsch, gefährlich und schädlich“. Eine überzeugende Antwort auf die Frage danach, wie man den Kulturkampf gegen „die Erwählten“ gewinnen kann, geben weder McWhorter noch Lindsay und Pluckrose.

Helen Pluckrose, James Lindsay: Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt. Verlag C.H. Beck, München 2022, broschiert, 380 Seiten, 22 Euro

John McWhorter: Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2022, gebunden, 256 Seiten, 23 Euro