© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Der macht, was er will
Christian Vollradt

Manche, deren Profession es ist, den Berliner Politikbetrieb von der Seitenlinie aus zu beobachten, bezeichnen ihn als den sympathischsten Abgeordneten: Jakob Maria Mierscheid. Das Kompliment kommt deshalb so leicht über die Lippen, weil es nie den Vorwurf mangelnder Distanz oder zu offensichtlicher Parteinahme nach sich zieht. Das liegt an einigen Besonderheiten dieses wahrlich einzigartigen Politikers. 

Denn obwohl Mierscheid ein waschechter Sozialdemokrat ist, wird er über die Parteigrenzen hinweg verehrt. Das führt zum Kuriosum, daß nach keinem anderen Abgeordneter schon während seiner Zeit als Mitglied des Bundestags ein Weg im Regierungsviertel benannt worden ist. Denn die obere Verbindungsbrücke über die Spree zwischen Paul-Löbe- und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus heißt ausweislich eines dort am 1. April 2004 angebrachten Schilds Jakob-Mierscheid-Steg. 

Dem Parlament in Bonn und Berlin gehört der am 1. März 1933 geborene Abgeordnete seit dem 11. Dezember 1979 – dem Todestag von SPD-Urgstein Carlo Schmid – ununterbrochen an. So steht es zumindest im offiziellen Datenhandbuch des Deutschen Bundestags. Unbestätigt ist dagegen die Behauptung, der aus Morbach im Hunsrück stammende Katholik und verwitwete Vater von vier Kindern habe seinerseits drei Väter; nämlich den 2012 verstorbenen einstigen Finanz-Staatssekretär Karl Haehser (SPD), den ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Dietrich Sperling (SPD) und Peter Würtz, einst ebenfalls SPD-Bundestagsabgeordneter.   

Mierscheid hatte vor seinem Gang in die Politik eine Schneiderlehre absolviert und 1956 die Meisterprüfung abgelegt. Zu seinen politischen Schwerpunktthemen gehört unter anderem die Sorge um Wohl und Wehe der geringelten Haubentaube in Mitteleuropa. Aber auch um Verbesserungen im parlamentarischen Betrieb kümmerte er sich rührend. So erwähnte sein Fraktionskollege Peter Conradi während einer Debatte 1988 Mierscheids Vorschlag, „endlich mit dem Hinterbänklertum Schluß zu machen und einen Plenarsaal zu planen, in dem alle 519 Abgeordneten in der ersten Reihe sitzen können“. Legendär ist zudem das „Mierscheid-Gesetz“, welches lautet: „Der Stimmenanteil der SPD richtet sich nach dem Index der deutschen Rohstahlproduktion der alten Länder – gemessen in Millionen Tonnen – im jeweiligen Jahr der Bundestagswahl“.

Am 1. März 2013, dem 80. Geburtstag Mierscheids, würdigte der seinerzeitige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) den Jubilar als „geschätzten, gelegentlich verzweifelt gesuchten Kollegen“, der leider aus „zwingenden Gründen“ nicht an der Sitzung teilnehmen könne. Spekulationen, „es gäbe ihn gar nicht“, seien, so Lammert, „durch zahlreiche Fundstellen in der Literatur eindeutig widerlegt“.

Nun sollten Sie, liebe Leser, einen Blick auf das Datum am oberen linken Rand der Seite werfen, um das Wirken Jakob Maria Mierscheids sowie den Anlaß für diesen Beitrag richtig einzuordnen …