© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

In die Höhe
Erhebliche Zielkonflikte für Deutschland: Eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge drängen über kurz oder lang auf den stark angespannten Wohnungsmarkt. Doch die Bauwirtschaft kann nicht mehr leisten, und die Klimaziele verhindern größere Neubauvorhaben. Was also tun?
Stefan Kofner

Der Exodus aus der Ukraine ist die größte Fluchtwelle innerhalb Europas seit 1945. In den ersten vier Wochen nach Kriegsausbruch haben bereits mehr als 3,7 Millionen Ukrainer ihre Heimat verlassen (Stand 23. März) und weitere 6,5 Millionen sind innerhalb des Landes auf der Flucht (Stand 21. März). Bis zum 23. März hat Deutschland 246.000 offiziell registrierte ukrainische Kriegsflüchtlinge aufgenommen.

Die Entwicklung in der Ukraine läßt einen längeren Abnutzungskrieg mit größeren Zerstörungen an der zivilen Infrastruktur und am Wohnungsbestand befürchten. Die Menschen bangen um ihr Leben, und die Angriffe nehmen ihnen ihre Lebensgrundlage. Entsprechend hoch und dauerhaft wird wahrscheinlich das Flüchtlingsaufkommen aus der Ukraine sein. Nach den vorliegenden Schätzungen von EU-Kommission und UN-Flüchtlingskommissariat muß sich Europa auf sieben bis zehn Millionen Flüchtlinge einstellen.

Die Preise für Wohneigentum   sind um 80 Prozent gestiegen

Die EU hat angesichts dieser Entwicklung die „Massenzustrom-Richtlinie“ aktiviert. Damit ha-ben geflohene Ukrainer nach Registrierung nicht nur Anspruch auf Gesundheits- und Sozialleistungen. Sie können auch im gesamten EU-Raum ihren Aufenthaltsort frei wählen und sofort eine Arbeit aufnehmen. Dieser auch binnenräumlich weitgehend ungeregelte Zustrom droht einzelne Zielländer, -städte und -regionen ressourcenmäßig und politisch zu überfordern.

Die Bandbreite der Zahl der bei ungesteuerter Migration für Deutschland zu erwartenden Ukrai-ne-Flüchtlinge dürfte sich zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Personen bewegen. Damit haben wir zahlenmäßig ein ähnlich großes Problem wie 2015 vor uns. Zu erwarten ist, daß die ukrainischen Flüchtlinge bei einer reibungsloseren Integration in den Arbeitsmarkt auch schneller auf den Wohnungsmarkt drängen werden.

Natürlich sind die Anstrengungen jetzt auf das unmittelbar Drängende gerichtet. Aber provisorische und private Unterkünfte bieten den Menschen keine dauerhafte Perspektive. Wegen der großen Zahl der Flüchtlinge und des Zeitbedarfs für Planung und Bau von Wohnungen muß die Wohnungsfrage jetzt neu gestellt werden. Wieviel Platz haben wir und wieviel können wir zusätzlich schaffen?

Eine Million dauerhafte Flüchtlinge benötigen etwa 400.000 Wohnungen, davon ein großer Teil in den bereits höchst angespannten städtischen Wohnungsmärkten. Der Wohnungsleerstand befindet sich nach der langen Bauflaute der Merkeljahre auf einem Tiefststand von nur noch 2,8 Prozent. In Berlin sind nur 0,8 Prozent der Wohnungen frei, in Hamburg 0,5 und in München und Frankfurt sogar nur 0,2 Prozent. In diesen Städten herrscht bereits Wohnungsnotstand.

Die Angebotsmieten sind seit 2010 schon um die Hälfte gestiegen und liegen jetzt um die neun Euro pro Quadratmeter. In den großen kreisfreien Städten liegen sie knapp unter 12 Euro, in den sieben größten Städten noch deutlich darüber.

Besonders knapp sind Wohnungen, die für breite Schichten bezahlbar sind. Der Sozialwohnungsbestand beträgt nur noch eine Million – früher waren es über vier Millionen. Die Mietbelastung brutto kalt lag laut Mikrozensus 2018 bei 27 Prozent (2010: 23 Prozent). Auch der Bau oder Erwerb eines eigenen Heims ist sehr kostspielig geworden. Die Preise für selbst genutztes Wohneigentum sind zwischen 2010 und 2021 um rund 80 Prozent gestiegen. Mehrfamilienhäuser sind sogar um mehr als 100 Prozent teurer geworden. Die Bodenpreise haben noch stärker zugenommen.

Damit mittelfristig der Übergang der ukrainischen Flüchtlinge in den regulären Wohnungsmarkt gelingt, müßten bis 2025 nicht wie im Koalitionsvertrag vorgesehen 400.000, sondern wenigstens 500.000 Wohnungen im Jahr gebaut werden. Das wäre ein schwer zu erreichendes Ziel.

Zunächst einmal ist die deutsche Bauwirtschaft derzeit überwiegend in Bestandsmaßnahmen gebunden. Entsprechend haben sich die Wohnungsbaufertigstellungen trotz des dringenden Bedarfs sehr verhalten entwickelt. 2020 lag ihre Zahl erstmals seit 2001 wieder über 300.000. Knapp 70 Prozent der gesamten Bauleistung sind Sanierungsleistungen im Bestand, und dieser Anteil ist seit Jahren konstant. Er könnte angesichts der ambitionierten Ziele der Bundesregierung und der EU-Kommission für den Klimaschutz im Gebäudebereich sogar noch steigen.

Die Preise für den Neubau konventionell gefertigter Wohngebäude lagen im 4. Quartal 2021 um 14,4 Prozent über dem gleichen Vorjahresquartal (11,4 Prozent, wenn man den Mehrwertsteuereffekt berücksichtigt). Das war der stärkste Anstieg seit 1970. Der Hauptgrund dafür sind die Lieferkettenstörungen und Materialknappheiten, die ihrerseits den unstetigen und global asynchronen Corona-Krisenmaßnahmen geschuldet sind. Ein Anstieg der Materialkosten führt für sich genommen zu einer Verschiebung der Kostenkurven von Wohnungsunternehmen und Bauträgern und in der Folge zu einem Anstieg der Neubaumieten und Neubaupreise, die dann auch die Bestandsmieten und -preise mit nach oben ziehen. Daraus ergibt sich unter sonst gleichen Bedingungen ein Rückgang der Neubauleistung.

Die Erzeugerpreise für wichtige Baustoffe wie Holz und Stahl sind im Jahresdurchschnitt 2021 so stark wie noch nie seit Beginn der Erhebung des Statistischen Bundesamtes im Jahr 1949 gestiegen. So verteuerte sich Konstruktionsvollholz um 77,3 Prozent, Bauholz um 61,4 Prozent, Betonstahl in Stäben um 53,2 Prozent, Metalle um 25,4 Prozent. Selbst die Preise für Spanplatten stiegen um 23 Prozent.

Der Ukraine-Krieg trifft die Baubranche in einer Phase, in der die Bauunternehmen die bereits eingetretenen enormen Kostensteigerungen beim Baumaterial an die Kunden weitergeben. Die Ifo-Preiserwartungen für den Hochbau bewegten sich schon vor Kriegsbeginn auf einem historischen Hoch: Jeder zweite Betrieb kalkulierte für die kommenden Monate mit Preisanpassungen.

Der Ukraine-Krieg verschärft nun wieder die Materialsituation. Laut dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes (ZDB) drohen Bauverzögerungen und Baustopps. Insbesondere Stahl, Pech und Treibstoffe seien von neuen Preissprüngen betroffen. Die Lieferengpässe und Preissprünge erzeugen Planungsunsicherheit.

Wegen der hohen Kapazitätsauslastung im Baugewerbe werden die Unternehmen die gestiegenen Preise ungefiltert an die Kunden weiterreichen können: Laut BBSR liegt die Kapazitätsauslastung im ersten Quartal 2022 bei 75 Prozent und damit über dem Höchstwert während des Baubooms Mitte der neunziger Jahre. Im Bauhauptgewerbe warten Privatkunden im Durchschnitt 14 Wochen auf einen Handwerker.

Bauwirtschaft arbeitet an der Kapazitätsgrenze

Die Aussichten auf eine Kapazitätserweiterung sind bescheiden, denn die Baubranche leidet seit Jahren deutlich stärker als andere Sektoren unter einem Mangel an Fachkräften. 61 Prozent der Bauunternehmen haben bei einer Umfrage angegeben, daß sie Stellen längerfristig nicht besetzen können. Die Ausbildungsberufe im Baugewerbe sind auch wegen des demographischen Wandels weniger nachgefragt, so daß immer mehr Lehrstellen unbesetzt bleiben (knapp 40 Prozent im Ausbildungsjahr 2021 bis September).

Angesichts dieser Lage kann die Bauwirtschaft derzeit nicht einmal das Wohnungsbauziel des Koalitionsvertrages erreichen. Und die politischen Handlungsmöglichkeiten sind sehr beschränkt. Der personelle Flaschenhals der Baukapazitäten kann allenfalls auf mittlere bis lange Sicht erweitert werden. Die Baupreise kann die deutsche Politik nur beeinflussen, wenn sie dereguliert und den Klimaschutz kleiner schreibt. Auch ein Umsteuern der Kapazitäten von Bestands- auf Neubaumaßnahmen ginge zu Lasten der Klimaschutzziele.

Aber wo könnte überhaupt noch Wohnraum geschaffen werden? Die Herrichtung großer Neubauflächen auf der grünen Wiese widerspräche fundamental den Versiegelungszielen, auf die sich die Bundesregierung im Rahmen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie verpflichtet hat: Bis zum Jahr 2030 ist die Neuinanspruchnahme von Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke auf unter 30 Hektar pro Tag zu verringern. In den Jahren 2017 bis 2020 wurden aber täglich 54 Hektar neu in Anspruch genommen – meist zu Lasten der Landwirtschaft und fruchtbarer Böden. Das entspricht etwa der Fläche von etwa 76 Fußballfeldern – am Tag.

Es bleibt also im wesentlichen nur Flächenkonversion oder Verdichtung durch Aufstockung, Baulückenschließung oder Abriß und Neubau mit deutlich höherer Geschoßflächenzahl. Doch die Konversionsflächen und Baulücken sind vielerorts bereits knapp, und Hochhausbauten erfordern eine entsprechende Bebauungsplanung und sind politisch kontrovers.

Die neue Flüchtlingswelle trifft Deutschland also in einer angespannten Situation auf den Woh-nungs- und Baumärkten. Die deutsche Bauwirtschaft arbeitet an der Kapazitätsgrenze, ist größtenteils in der Bestandssanierung gebunden und leidet unter Lieferschwierigkeiten und explodierenden Material- und Baupreisen. Die Versiegelungsziele verhindern Neubauten auf der grünen Wiese. Wenn aber die nötige Erhöhung der Zahl der Wohnungsfertigstellungen gegenüber dem Koalitionsziel nicht gelingt, gibt es noch mehr Druck auf die Mieten und Immobilienpreise in den Schwarmstädten und kaum noch Aussichten, dort eine Wohnung zu finden.

Um überhaupt rational planen zu können, die vorhandenen Ressourcen möglichst effizient zu nutzen und die Belastungen für die bereits ansässige Bevölkerung zu begrenzen, muß jetzt die räumliche Verteilung der Flüchtlinge europaweit in Form eines Quotensystems regional feingesteuert werden. Binnenräumlich sollten die Ukrainer so verteilt werden, daß die vorhandene Reserve von etwa 600.000 leerstehenden Wohnungen in Mehrfamilienhäusern so gut wie möglich für ihre Unterbringung genutzt werden kann. Bei der Festlegung der Länderquoten sollte auch berücksichtigt werden, daß Deutschland dicht besiedelt ist und in der Vergangenheit mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als andere (1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, EU-Durchschnitt 0,6 Prozent).

Die dauerhafte Aufnahme von einer Million Menschen aus der Ukraine könnte in unserem Wohnsystem nur unter großen Schwierigkeiten bewältigt werden. Sie ist überhaupt nur zu schaffen, wenn die ökologischen Ziele in den Bereichen Versiegelung und Klimaschutz hintangestellt werden.

Foto: Seriell gefertigte Hochhäuser im Berliner Stadtrandbezirk Marzahn-Hellersdorf: Auf der grünen Wiese in großem Stil neu zu bauen widerspricht der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie zur Verminderung von Versiegelung