© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Vereint gegen Orbán
Ungarn: Nicht nur Brüssel wird gespannt auf die Wahl der Magyaren schauen
Siegfried F. Franke

Brüssel hat Ungarn schon seit langem wegen seiner werteorientierten Politik und seines Geschichtsbewußtseins ins Visier genommen. Nun naht der 3. April mit der Parlamentswahl, bei der sich Ministerpräsident Viktor Orbán mit der bisherigen Listenverbindung seiner Partei, dem Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP), zur Wiederwahl stellt. Man konnte buchstäblich darauf warten, daß Brüssel kurz vor dem Urnengang in die ungarische Innenpolitik zugunsten der Oppositionsparteien eingreift.

Während die Umfrageergebnisse bis etwa Mitte Februar – je nach Institut – ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Regierungsliste und der Oppositionsliste einen minimalen Vorsprung der Regierungsliste auswiesen, hat sich das Bild seit dem Überfall Rußlands auf die Ukraine gewandelt: Die Chancen der Regierungskoalition steigen. Aktuellen Umfragen zufolge liegt Fidesz bei 50 und die Vereinte Opposition bei 43 Prozent. Das mag Donald Tusk, Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, veranlaßt haben, sich am 15. März 2022 in den Wahlkampf einzumischen; sicher nicht, ohne Billigung der Kommission.

EVP-Chef stellt sich auf die Seite der Opposition

Der 15. März (1848) spielt für Ungarn als Beginn der Freiheitskämpfe eine besondere Rolle. Just an diesem Tag traf sich Tusk mit Péter Márki-Zay, dem gemeinsamen Kandidaten der Opposition, der bei den Parlamentswahlen gegen Orbán antritt. Tusk äußerte die Hoffnung, daß das von Márki-Zay geführte Bündnis in Zukunft zu einer politischen Partei werde, die der EVP beitreten könne. Nicht genug damit, er verglich überdies den amtierenden Ministerpräsidenten, Viktor Orbán, mit Wladimir Putin. „Kein ehrlicher Mensch sollte Zweifel daran haben, auf welcher Seite Orbán in diesem Kampf steht. Er und sein Team haben hart daran gearbeitet, daß sie in Europa als besonders Putin-freundlich wahrgenommen werden“, betonte Tusk.

„Orbán ist derjenige, der auf der Bühne der internationalen Politik seine Spielchen treibt und unser Selbstwertgefühl mit Füßen tritt“, sprang ihm Márky-Zay bei. Orbáns Fidesz sei eine „haßerfüllte“ Partei, eine erklärtermaßen „illiberale Partei, die die Freiheit der Ungarn“ einschränke, und Orbán sei ein Tyrann, der in allen „seinen Kriegen versagt“ habe. Der derzeitige Premierminister sei ein „Lügner, ein Feigling, ein Führer, der eine offene Debatte ablehne, der alle vier Jahre seine Ideologie und jeden Tag seine Meinung“ ändere, so der Oppositionsführer.

Offenbar liegen die Nerven in Brüssel blank. So sind auch die Urteile der Vizepräsidentin des EU-Parlaments Katarina Barley zu verstehen, die schon seit Jahren, vor allem aber seit Mitte 2021 und auch jetzt im Wahlkampf nahezu im Stundentakt Tweets absetzt, um Ungarn als Hort eines Diktators zu brandmarken. Dabei ist immer wieder das ungarische Wahlrecht ein Stein des Anstoßes.

Dies ist sehr kompliziert. Ähnlich wie in Deutschland sieht das ungarische Wahlrecht zwei Stimmen vor, allerdings schlägt – vereinfacht gesprochen – der Vorsprung bei der Erststimme bei der Zweitstimme ergänzend zu Buche, das heißt, jene Stimmen, die für den Direktkandidaten in einem Wahlkreis nicht erforderlich gewesen wären, werden seiner Partei bei der Zweitstimme, also bei der Landesliste zugerechnet. Ebenso gilt, daß die Stimmen der unterlegenen Kandidaten nicht verloren sind. Sie werden ebenfalls der jeweiligen Partei bei der Zweitstimme zugeschlagen. Diese Regelung dient dazu – ähnlich wie zum Beispiel im Vereinigten Königreich und Frankreich – stabile Regierungen zu ermöglichen. Die Venedig-Kommission des Europarates hat dementsprechend das ungarische Wahlrecht nicht beanstandet. Bislang nützte das Wahlrecht der stärksten Regierungspartei, dem Fidesz. Das ist keine dauerhaft sichere Bank, es kann durchaus zugunsten der bisherigen Opposition ausschlagen. 

Das Wahlrecht kam mal Orbán und mal seinen Opponenten zugute 

So nimmt es nicht wunder, daß die ungarische Opposition bei der Parlamentswahl 2018 keine Kritik am Wahlrecht geübt hatte, weil sie sich Siegeschancen ausgerechnet hatte. Kurz zuvor nämlich setzte sich nämlich bei der Bürgermeisterwahl in der Stadt Hódmezővásárhely Péter Márki-Zay als parteiunabhängiger Kandidat gegen den Kandidaten der Regierungspartei (Fidesz) durch. Möglich wurde das Ergebnis, weil sich die linken Oppositionsparteien mit der rechtsorientierten Jobbik zu einer Liste zusammengeschlossen hatten. Bei der zwei Monate später stattfindenden Parlamentswahl kam eine solche Verbindung indessen nicht zustande, so daß Orbán abermals einen deutlichen Sieg einfahren konnte. Danach war die Kritik der Opposition, daß das Wahlrecht undemokratisch und unfair sei, groß, und man rief zu Demonstrationen auf. Das ist – mit Verlaub – unglaubwürdig.

Demokratie lebt von einer schlagkräftigen Opposition. Wegen ihrer Zersplitterung war sie bislang ein Totalausfall und konnte Orbán und die Regierungskoalition nicht gefährden. Seit der Kommunalwahl im Oktober 2019 zeichnete sich eine kleine Wende ab. Bei den Kommunalwahlen hatten sich nämlich Oppositionsparteien von links und rechts zu Listenvereinbarungen zusammengeschlossen, und sie konnten so dem Fidesz einige Bürgermeisterämter abnehmen, darunter den prestigeträchtigen Posten des Oberbürgermeisters von Budapest.

Diese Beispiele bestärkten die Oppositionsparteien inklusive  der als sehr rechts eingestuften Jobbik in der Absicht, auch für die Parlamentswahl im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Liste aufzustellen. Fraglich ist, ob dieser Zusammenschluß in der täglichen politischen Arbeit stabil bleibt. Im Fall eines Wahlsiegs dürfte der Streit, wer welche wichtigen Ressorts übernimmt, zu Zerreißproben führen. Das zeichnete sich schon bei der Frage ab, wer als Spitzenkandidat für das Amt des Ministerpräsidenten fungieren soll. Gedacht war zunächst an Budapests  Oberbürgermeister, Gergely Karácsony, dann kam Klára Dobrev, Ehefrau des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány ins Spiel, und schließlich wurde es Márki-Zay.






Prof. em. Dr. Siegfried F. Franke lehrte unter anderem an der Andrássy Universität Budapest

Foto: Ministerpräsident Viktor Orbán spricht bei einer Kundgebung während der Feierlichkeiten zum ungarischen Nationalfeiertag am 15. März 2022: „Für Frieden und Sicherheit“