© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Grüße aus … Rio
Sturm im Wasserglas
Wolfgang Bendel

Paukenschlag in Brasilien. Alexandre de Moraes, Richter am brasilianischen Obersten Gericht sperrte kürzlich mit sofortiger Wirkung die Internetplattform Telegram für das ganze Land. Er begründete dies mit der mangelnden Kooperation des Kurznachrichtendienstes bei der Löschung angeblich strafbarer Inhalte auf der Plattform.

Präsident Jair Bolsonaro kritisierte die Entscheidung scharf, und die Generalstaatsanwaltschaft (AGU) stellte beim Obersten Gericht einen Antrag auf einstweilige Anordnung mit dem Ziel, die Verfügung sofort zu widerrufen. Begründet wurde dies unter anderem mit den Rechten der Verbraucher, die verletzt würden: „Nutzer (…) dürfen keine negativen Auswirkungen bei Verfahren erleben, an denen sie nicht beteiligt sind.“

Telegram verfügt in Brasilien über mehr als 70 Millionen Nutzer und steht damit hinter WhatsApp an zweiter Stelle, was die Verbreitung solcher Dienste im Lande betrifft. Die steigende Beliebtheit der Plattform rührt nicht zuletzt daher, daß dort praktisch keine Zensur ausgeübt wird. 

Pikant an der Sache ist, daß der Richter als Intimfeind des Präsidenten gilt und diesem eins auswischen wollte.

Was sofort ins Auge fällt, ist die Unverhältnismäßigkeit der Anordnung. Da sollen viele Millionen Nutzer von Telegram in ihren Rechten beschnitten werden, weil bei Publikationen von ganzen vier Teilnehmern der Richter Gesetzesverstöße festgestellt haben will und der Kurznachrichtendienst sich weigerte, die inkriminierten Inhalte zu löschen.

Pikant an der Sache ist, daß Moraes als Intimfeind des Präsidenten gilt und diesem ganz offensichtlich eins auswischen wollte. Denn einer der vier „Übeltäter“ ist Bolsonaro selbst, der einige Mitteilungen über Telegram ins Netz gestellt hatte, die Moraes als „Fake News“ bezeichnete. Interessant ist auch, daß Bolsonaro bei Telegram über 1,3 Millionen Follower hat, was bei diesen den Verdacht nährte, die eigentliche Motivation der Sperraktion sei der Versuch, im anstehenden Wahlkampf die Kommunikation zwischen dem Präsidenten und seinen Anhängern zu behindern.

Inzwischen lenkte Telegram ein, löschte die beanstandeten Inhalte, und die angedrohte Sperre wurde wieder aufgehoben. Entgegen Berichten deutschsprachiger Medien wurde Telegram zu keinem Zeitpunkt vom Netz genommen. Der gesamte Vorgang war zudem eine Einzelentscheidung von Moraes. 

Auch wenn der Vorgang einen der für Brasilien so typischen „Stürme im Wasserglas“ darstellt, die Vorgehensweise des Richters bleibt fragwürdig. Es kann ja nicht sein, daß Millionen völlig Unbeteiligte persönliche Nachteile in Kauf nehmen müssen, nur weil andere eine Gesetzeswidrigkeit begingen und dabei lediglich dieselbe Technologie benutzten.