© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Drohen Hunderttausende Arbeitslose in der deutschen Chemieindustrie?
Kein solidarischer Akt
Jörg Fischer

Leichen auf den Straßen. Mütter, Kinder und Großeltern in den U-Bahn-Schächten und Luftschutzkellern. Millionen Flüchtlinge. Mariupol zerstört wie im Zweiten Weltkrieg. Ein russischer Bomben- und Raketenhagel auf Kiew und Großstädte wie Charkow, Nikolajew, Odessa oder Tschernigow. Die Bilder aus der Ukraine sind unerträglich. Der Krieg muß endlich aufhören. Den tapferen Ukrainern muß geholfen und Wladimir Putins Invasionsarmee gestoppt werden. Klimaschützer, Transatlantiker, Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Hinterbänkler wie Norbert Röttgen (CDU) und Anton Hofreiter (Grüne) sind mit ihren Forderungen nach einem sofortigen Importstopp russischer Rohstoffe nicht mehr allein.

Doch geht es dabei nicht nur um ein bißchen „frieren für die Freiheit“, wie Altbundespräsident Joachim Gauck glaubt. Denn Erdgas ist auch als Prozeßenergie in der deutschen Chemie-, Glas- oder Stahlindustrie unverzichtbar: „Als deutsche Nation können wir diese 55 Prozent heutiger Gaslieferungen nicht kompensieren“, warnte Michael Vassiliadis (SPD), Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), im Deutschlandfunk. Dann müßte nicht nur die BASF in Ludwigshafen, der größte Chemiestandort der Welt, heruntergefahren werden. Auch andere Branchen und zahlreiche EU-Staaten bräuchten dann von woanders her ihr Erdgas – und das ist allenfalls mittelfristig und zu extremen Preisen möglich (JF 13/22). Hunderttausende müßten in Kurzarbeit oder direkt aufs Arbeitsamt. Und die bislang erzeugten Produkte fehlen an vielen Stellen: „Die Chemie ist ja für fast alles der Ausgangspunkt“, so Vassiliadis.

Hinzu kommt: Die schnell betriebsbereiten Gaskraftwerke müssen einspringen, wenn Wind- und Solaranlagen in Dunkelflauten kaum Strom liefern. Gerade unter Umweltminister Röttgen sei „der Kernenergie-Ausstieg noch einmal beschleunigt worden“, erinnert der IG BCE-Chef. Die deutschen Industrieunternehmen ins Chaos zu stürzen sei kein solidarischer Akt – im Gegenteil: „Ich glaube, mit einer starken Volkswirtschaft können wir der Ukraine jetzt und in Zukunft mehr helfen.“ Es bleibt daher nur die bittere Erkenntnis: Der Wohlstand in Deutschland ist ohne Rohstoffe aus despotischen und kriegerischen Ländern in Afrika, Amerika und Asien nicht zu halten.