© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Deutliche Rückschläge
Exportwirtschaft: Der globale Freihandel ist bedroht, aber er ist existentiell für die deutsche Industrie / Chance für TTIP 2.0?
Albercht Rothacher

Warum ist Deutschland trotz aller Probleme immer noch wohlhabend und – nach den USA, China und Japan – mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von etwa vier Billionen Euro weiter die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt? Das ist vor allem unserer Exportindustrie zu verdanken: Voriges Jahr wurden Waren im Wert von 1.375,5 Milliarden Euro exportiert – das waren 14 Prozent mehr als im ersten Corona-Jahr 2020 und damit sogar etwas mehr als im Vorkrisenjahr 2019 (1.327,6 Milliarden Euro). Die Außenhandelsbilanz schloß das Jahr 2021 zudem mit einem Überschuß von 173,3 Milliarden Euro ab. Es wurde also erneut viel mehr ex- als importiert, weil deutsche Autos, Chemikalien, Flugzeuge oder Maschinen beliebter sind als die der meisten Konkurrenten.

Doch die Stimmung unter den deutschen Exporteuren ist infolge des Ukraine-Krieges und der gegenseitigen Sanktionen eingebrochen. „Die Ifo-Exporterwartungen sind auf minus 2,3 Punkte abgestürzt, von 17,0 Punkten im Februar“, erklärte am Montag Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Einen stärkeren Rückgang habe es bisher nur zu Beginn der Corona-Krise im April 2020 (minus 31,2 Punkte) gegeben. „Insbesondere Unternehmen mit wirtschaftlichen Verbindungen zu Rußland blicken deutlich pessimistischer auf die kommenden Monate. Der Zuwachs der Exporte wird sich merklich verlangsamen“, warnte Fuest. Einen deutlichen Rückschlag mußten vor allem die Autohersteller und ihre Zulieferer verkraften.

Weiterhin Streit um das Ceta-Abkommen mit Kanada

Doch ist Freihandel existentiell für die deutsche Industrie. Kanada liegt mit 9,3 Milliarden Euro (2020) zwar nur auf Rang 25 der deutschen Absatzmärkte, doch das zweitgrößte Land der Erde mit allerdings nur 38,5 Millionen Einwohnern (etwa soviel wie Polen) ist ein ausbaufähiger und vor allem zahlungskräftiger Markt, der mit einem BIP von 1,65 Billionen Dollar größer ist als der von Südkorea, Rußland oder Brasilien. Daher ist das EU-Freihandelsabkommen Ceta mit Kanada seit sechs Jahren ein Riesenthema. Die Umweltverbände, die Linke und große Teile der Grünen in Deutschland oder die FPÖ und die Kronenzeitung in Österreich liefen dagegen Sturm. Die Regionalregierung der belgischen Wallonie blockierte Ceta lange.

Hauptsächlicher Stein des Anstoßes: ein bilaterales Schiedsgerichtsverfahren, bei dem auch Konzerne klagen können, denn dank US-Sabotage fällt die Welthandelsorganisation WTO für diese Schiedsrichterrolle durch die Nichternennung von Richtern bis auf weiteres aus. Seit 2017 ist Ceta vorläufig in Kraft. Das Bundesverfassungsgericht urteilte im März bei der Abweisung diverser Klagen, daß dies auch rechtens sei. Immerhin wurde die EU-Rechtsordnung durch kanadische Firmen seither nicht ausgehebelt. Und die zum Teil astronomischen Zölle auf Agrarprodukte um die 400 Prozent verschwanden. Der transatlantische Handel wuchs um ein Fünftel – mit deutlichen Milliardenüberschüssen für die europäische Seite. Neben der weitgehenden Zollfreiheit sind auch das öffentliche Beschaffungswesen und die Dienstleistungen gegenseitig liberalisiert.

Nun muß aber der Bundestag noch ratifizieren. Bei der Berliner Ampel blinken mal wieder alle Lichter. Grüne und Linke dagegen, FDP und Union dafür und SPD wie AfD gespalten. Bei dem Exportweltmeister Deutschland, wo jeder vierte Arbeitsplatz direkt vom Export abhängt, stellt sich die – eher rhetorische – Frage nach dem wirtschaftlichen Sachverstand seiner politischen Klasse, die solche Handelsabkommen, die nach der Sanktionierung Rußlands und der beginnenden Abkopplung Chinas mit seinen willkürlichen Schließungen von Welthäfen und Industriemetropolen und der Unterbrechung vitaler Lieferketten dringender denn je erscheinen lassen, mit allen möglichen sachfremden Normen zu befrachten sucht: von den Menschen- und Arbeitsrechten bis zum Klima- und Datenschutz.

Die CO2-Grenzausgleichsabgabe provoziert heftige Gegenzölle

So hängt auch das EU-Mercosur-Abkommen mit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay seit Jahren in der Warteschleife, ohne daß ein Baum des Regenwaldes davon gerettet worden wäre. Im Gegenteil: Jetzt bezieht China massenhaft brasilianische Sojabohnen und argentinisches Rindfleisch. Die europäischen Exporteure von Industriegütern wie Pkws und Haushaltsgeräten haben das Nachsehen. Das Freihandelsabkommen TTIP, gegen das Linke, Rechte, Bauern und Umweltverbände eine jahrelange hysterische Kampagne (Stichworte: Chlorhühnchen und private Schiedsgerichte) durchgezogen haben, ist seit 2017 und wegen Donald Trump politisch tot. Joe Biden ist ebenfalls kein Freihändler. Die meisten der Strafzölle seines Vorgängers gegen China sind weiter in Kraft. Auch der jetzige US-Präsident glaubt, so Industriearbeitsplätze im „Rostgürtel“ der Staaten von den Appalachen bis Detroit retten zu können.

Doch nun startete Finanzminister Christian Lindner eine neue TTIP-Initiative: „Gerade jetzt in der Krise zeigt sich, wie wichtig der freie Handel mit Partnern in der Welt ist, die unsere Werte teilen“, erklärte der FDP-Chef dem Handelsblatt. Und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall reagierte begeistert: „Wenn wir dieser Tage eines gelernt haben, dann daß die wirtschaftliche Stärke Grundlage unseres Wohlstands, aber auch unserer Wehrhaftigkeit ist. Wir müssen deshalb alles tun, was uns wirtschaftlich stärkt, und dazu zählt vor allem, die Zusammenarbeit mit unseren Partnerländern auszubauen“, so Verbandschef Stefan Wolf. Doch mit dem grünen Regierungspartner dürfte das äußert schwierig werden.

Aber es gäbe eine „Hintertür“: den 2021 gegründeten Trade and Technology Council (TTC) zwischen der EU und den USA. Offiziell geht es um Standards, Klima, Künstliche Intelligenz (KI) oder Elektronikchips. Wenn auch noch über Zölle geredet würde, könnte daraus ein TTIP 2.0 werden. Aber wie sieht es europaweit aus? Die EU-Kommission beschloß gerade – absolut inflationstreibend – eine CO2-Grenzausgleichsabgabe (Carbon Border Adjustment Mechanism/CBAM) auf energieintensive Importe wie Zement, Düngemittel und Metalle aus Ländern, die sich nicht an die EU-Klimanormen halten. Indien, China, aber auch die USA und der Rest der Welt werden sicherlich nicht zögern, zur Vergeltung Strafzölle auf europäische Exporte dort einzuführen, wo es weh tut.

Und Emmanuel Macron führt seinen Präsidentschaftswahlkampf mit der für einen Linksliberalen (der auch für das Investmenthaus der Rothschilds gearbeitet hat) befremdlichen Parole nach mehr wirtschaftlicher, agrarischer und militärischer Autarkie Frankreichs. Das hatte schon Staatspräsident Charles de Gaulle in den 1960er Jahren so gesehen. Nur, jene romantische französische Idylle war vor 60 Jahren schon nicht mehr intakt. In Ermangelung eines funktionierenden Freihandelssystems unter der WTO (dem früheren Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen/GATT) benötigt die deutsche Wirtschaft dringender denn je in der aktuellen Krise bilaterale Freihandelsabkommen mit verläßlichen Partnern und großen Märkten. Norwegen, Japan, Südkorea, Singapur, Vietnam, Mexiko, Chile, Kanada, die Türkei und die Schweiz sind zu wenig.

Trade and Technology Council (TTC): digital-strategy.ec.europa.eu

Linksgrüne Initiative gegen Mercosur: www.gerechter-welthandel.org

Foto: Aktivisten protestieren mit der einjährigen Kuh gegen Billigfleischimporte und das EU-Mercosur-Abkommen: China importiert massenhaft brasilianische Sojabohnen und argentinisches Rindfleisch. Die europäischen Exporteure von Industriegütern wie Pkws und Haushaltsgeräten haben das Nachsehen