© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Das furchtbare Sterben der Marienstadt
Reportage aus Mariupol: Die russischen Eroberer dringen bereits in die Hafenstadt am Asowschen Meer ein. Die verbliebenen Einwohner hausen in Trümmern
Luca Steinmann

Mariupol, die ukrainische Hafenstadt am Asowschen Meer, ist eine Hölle unter freiem Himmel. Völlig von den russischen Eroberungstruppen umzingelt, unter ständigem Bombardement und ohne Kontakt zur Außenwelt, scheint es nur noch eine Frage von Tagen zu sein, bis das strategisch wichtige Industriezentrum vollständig unter die Kontrolle Moskaus fällt.

Mehr als 5.000 Zivilisten sind durch russische Angriffe auf Mariupol nach Angaben der ukrainischen Regierung bisher getötet worden, und längst sind nicht alle Toten ermittelt. Zwei Drittel der rund 440.000 Einwohner konnten fliehen.

In den letzten Stunden haben die Kreml-Soldaten die Intensität ihrer Angriffe am Boden erhöht. Seit Anfang März belagert, haben diese nach der Eroberung der Vororte das Zentrum erreicht, wo sie im Nahkampf gegen die letzten ukrainischen Verteidiger vorgehen, die hier ohne Ausweg gefangen sind. Die meisten dieser Kämpfer gehören dem Asow-Bataillon an, einer Formation, die in Mariupol ihr Hauptquartier hat und Teil der Nationalgarde ist. Das Bataillon gilt im Westen als umstritten, weil seine Mitglieder nationalgesinnt und rechtsgerichtet sind. Dessen Geschichte beginnt in der Region, denn das Bataillon aus Freiwilligen gründete sich im Mai 2014 im nahe gelegenen Berdjansk, um die seinerzeit schlecht aufgestellte ukrainische Armee im Kampf gegen die verdeckt eindringenden russischen Spezialeinheiten in den ukrainischen Bezirken Donezk und Luhansk zu stärken.

Die russische Offensive wird deutlich, sobald man die westliche Stadtgrenze überquert. Am letzten Märzwochenende trifft man auf Hunderte von Panzern, die Richtung Zentrum gerichtet sind. Auf der Seite eines jeden von ihnen ist der Großbuchstabe Z, das Symbol der russischen Eindringlinge in dieser Region, aufgemalt. Auf ihnen sitzen zahlreiche Soldaten, die ihre Gesichter mit Sturmhauben bedeckt haben und Kalaschnikows oder Raketenwerfer in den Händen halten. Die Panzer rücken über halb zerstörte Straßen vor, die von Mörserfeuer durchlöchert und von endlosen Reihen verbrannter militärischer und ziviler Fahrzeuge gesäumt sind. Auf beiden Seiten sind die Gebäude zerstört oder durch Granatenbeschuß verbrannt, die Wände schwarz und die Fensterscheiben zerbrochen. Aus einigen von ihnen steigen riesige dunkle Wolken auf, ein Zeichen dafür, daß sie von einer Bombe oder Rakete getroffen wurden. Es vergeht keine Minute, in der nicht laute Explosionen die Luft zerreißen.

Manche Einwohner wollen nicht fliehen und bleiben in den Kellern

Die anrückenden Militärfahrzeuge werden auf der Straße von einer Menschenmenge empfangen, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Eine riesige Menge verzweifelter Menschen, die fliehen, so gut sie können. Viele von ihnen sitzen in Autos, deren Dächer mit eilig zusammengeschnürtem Gepäck beladen sind. Aus den Fenstern winken sie mit Toilettenpapierrollen, Bettlaken oder weißen Handtüchern, um zu signalisieren, daß sie keine Kriegspartei sind. Manche Leute haben Papierschilder an den Fenstern, auf denen in großen Buchstaben steht: Kinder an Bord. Viele andere Menschen fliehen zu Fuß aus dem Zentrum, mit Koffern, Haustieren oder ihren kleinen Kindern. Rundherum tobt der Kampf. Von Zeit zu Zeit sind die Geräusche von Kampfflugzeugen zu hören, die in niedriger Höhe fliegen. Der Brandgeruch, der in der Luft liegt, ist intensiv, fast schon penetrant.

Viele fliehende Menschen bewegen sich auf einen großen Platz am Stadtrand zu, von dem aus Busse ins Umland fahren, von wo aus sie dann nach Donezk oder in die Russische Föderation weiterreisen werden. Am Rande des Platzes weht eine riesige Flagge von „Einiges Rußland“, der Partei von Wladimir Putin. Darunter verteilen ihre Aktivisten Lebensmittel und lebensnotwendige Güter an verzweifelte Bürger. Viele von ihnen laufen von den Bunkern, in denen sie sich verstecken, zum Gelände, um Lebensmittel zu sammeln, und kehren dann in den Keller zurück. Nicht weit davon fallen Bomben und Raketen.

Beim Betreten der zerstörten Viertel trifft man auf die Bewohner, die beschlossen haben, zu bleiben. In den Höfen der schwarz verbrannten Wohnblocks aus Sowjetzeiten die bleichen Gesichter derer, die erst ins Freie kommen, wenn der Bombenlärm etwas weiter entfernt ist. Manche wagen es sogar, ein Feuer in der Tür anzuzünden und etwas zu kochen, immer bereit, sich bei den ersten Anzeichen von Gefahr im Keller zu verstecken. Strom und Heizung gibt es nicht mehr. So hausen Andriy und Svitlana, ein junges Paar mit drei kleinen Kindern im Alter von elf, zehn und vier Jahren, deren Wohnung von einer Rakete zerstört wurde. Sobald sie die Journalisten sehen, bitten sie als erstes darum, ihre Verwandten in Donezk anrufen zu dürfen, um ihnen mitzuteilen, daß sie am Leben sind. „Wir konnten drei Wochen lang mit niemandem kommunizieren und werden nun versuchen, unsere Angehörigen in einer anderen Stadt zu erreichen und unser Leben wieder aufzubauen“, sagt uns Andriy am zurückliegenden Sonntag.

Beim Abstieg in den Keller des Gebäudes stoßen wir auf drei nebeneinanderliegende Leichen. Uns wird erklärt, es handele sich um drei Bewohner des Viertels, die durch den russischen Beschuß ums Leben gekommen sind. Im Moment ist niemand da, der die Leichen abholt und beerdigt. Die Bewohner berichten von zwei weiteren Personen, die in dem Gebäude gestorben sind. Es handele sich um zwei russische Soldaten, die gerade in die Stadt eingedrungen waren und von ukrainischen Soldaten in Zivil, die sich dort versteckt hielten, getötet wurden. Nach Aussage aller Bewohner des Viertels hatten die ukrainischen Verteidiger einige Höfe und Keller in dem Gebiet in Besitz genommen und sie als Militärstützpunkte genutzt.

In der Zwischenzeit findet eine Fahndung auf den Straßen statt. Die prorussischen Milizionäre patrouillieren durch die Straßen und suchen nach ukrainischen Soldaten, die in der Stadt eingeschlossen sind und sich unter die lokale Bevölkerung mischen, um die Repressalien der Invasoren zu überleben. Die russischen Patrouillen halten Männer im kampffähigen Alter auf der Straße an und zwingen sie, sich auszuziehen, um zu überprüfen, ob sie Tätowierungen haben, die ihre Zugehörigkeit zum Asow-Bataillon zeigen. Erst die Hemden, dann die Hosen. Dann werden ihre Brieftaschen und Handys kontrolliert. Die russischen Generäle wollen, so heißt es, die gesamte Stadt innerhalb einer Woche erobern. Das hieße, bis in die ersten Apriltage wäre Mariupol für die Ukraine verloren.






Luca Steinmann ist Reporter, der für deutsche und internationale Medien aus Krisengebieten berichtet, für die JF u. a. aus Bergkarabach.

Fotos: Zivilisten fliehen mit wenig Gepäck aus der unter Feuer stehenden Hafenstadt Mariupol, 26. März: Von den Russen fast vollständig zerstört; Zwei Bewohner während einer Feuerpause im Freien: Seit Wochen im feuchten Keller; Eine Rentnerin sieht sich ihre zerstörte Wohnung an: Allen Besitz verloren