© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Das falsche Bewußtsein
Neomarxismus: „Kulturelle Aneignung“ als Kampfbegriff
Dietmar Mehrens

Daß die Revolution ihre eigenen Kinder frißt, ist für alle, die sich mit marxistischen und neomarxistischen Bewegungen beschäftigen, ein alter Hut. Man hat es im Prämarxismus der Französischen Revolution erlebt; im Stalinismus, Maoismus und bei Pol Pots Roten Khmer hat es sich wiederholt: Irgendwann ging eine Paranoia um, die alles zermalmen mußte, was auch nur im Verdacht stand, nicht hundertprozentig auf Kurs zu sein.

Die Zeiten blutiger Säuberungen sind zwar vorbei – wenn heute die postmoderne Kulturrevolution die gebildeten Kreise des Westens überrollt, fließen Tränen statt Blut –, aber hinter dem Wahnsinn steckt immer noch dieselbe Methode: Indoktrination durch Agitprop, Festigung der so erlangten Diskurskontrolle durch Diffamierung, Einschüchterung und Eliminierung des „Konterrevolutionärs“. Der ist früher oder später auch in den eigenen Reihen zu finden.

Die homosexuelle Gelehrte Kathleen Stock von der Uni Sussex, die von ihrem Lehrstuhl weggeätzt wurde, weil sie ein Dogma der Geschlechtsrevisionistenliga in Frage zu stellen wagte, ist eigentlich eine Schulbuch-Feministin. Die rastazöpfige Ronja Maltzahn, die sich mit ihrem Erscheinungsbild der „kulturellen Aneignung“ eines Symbols schwarzer Bürgerrechtler schuldig gemacht hat, wollte auf der „Fridays for Future“-Veranstaltung in Hannover keine Gesinnungsgenossen verhöhnen, und Peter Lund, der Regisseur von „Jonny spielt auf“ am bayerischen Gärtnerplatztheater, mit einem schwarz geschminkten weißen Darsteller keinen Rassismus predigen, sondern das beanstandete „Blackfacing“ karikieren. Indes: Ironie, Scherz und Satire funktionieren bei der jakobinischen Linken nicht. Bei falschen Gesinnungen versteht die Revolution keinen Spaß.

Marcuse empfiehlt „Zensur, sogar Vorzensur“

Hätten Kathleen, Ronja und Peter nur in deren heiligen Schriften mal etwas genauer nachgelesen, zum Beispiel bei Herbert Marcuse, der 1966 kompromißlos klarstellte, „daß rückschrittlichen Bewegungen die Toleranz entzogen wird, ehe sie aktiv werden können, daß Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt wird (Intoleranz vor allem gegenüber Konservativen und der politischen Rechten)“. Es ist, mit den Worten Marcuses, eine „pervertierte“ Toleranz, die Kathleen Stock im Amt halten, bei blonden Rasta-Zöpfen ein Auge zudrücken und Dieter Nuhr weiter kritische Standpunkte zu Greta Thunberg vertreten lassen möchte. „Die Bedingungen, unter denen Toleranz wieder eine befreiende und humanisierende Kraft werden“ könne, gebe es ja noch nicht. Die muß man erst herbeiputschen. Marcuse empfiehlt dazu: „Zensur, sogar Vorzensur“. Der Kampf gilt dem „falschen Bewußtsein“, das am Beginn der „Entmenschlichung“ stehe. 

Vor allem bei heutigen „Cancel“-Kulturrevoluzzern und ihrem gesellschaftlich-medialen Umfeld ist der faschistoide Irrglaube virulent, echte Demokratie beginne nicht mit bürgerlicher Freiheit, sondern mit dem richtigen Bewußtsein. Eine solche Haltung  fördert jedoch nicht die liberale Demokratie, sondern das betreute Denken.