© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Zeitschriftenkritik: Seite 9
In der Natur flanieren
Werner Olles

Gibt es in unserer hektischen und reizüberfluteten Zeit noch den klassischen Flaneur? Michael Ludwig, Herausgeber und Chefredakteur der zweimonatlich erscheinenden Seite 9, verneint dies in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift (Nr. 21, März & April 2022) und meint, daß „wir am Beginn eines neuen kulturellen Genozids“ stehen, dessen erstes Opfer der Flaneur wurde. Nur noch bedingt dürfe er jetzt mit der Corona-Maske umherstreifen, und die diversen Lockdowns hätten ihn seiner Jagdgründe beraubt: Cafés, Geschäfte, Versammlungen, Einladungen. „Die Kultur gleicht einem stillen Friedhof.“ Geblieben sei nur die Erinnerung an glücklichere Zeiten, an die Gespräche mit Gleichgesinnten über Literatur, Kunst und Musik, ungewöhnliche Beobachtungen und das Verhalten von Menschen in nichtalltäglichen Situationen. Daher plädiert er dafür, einen neuen Flaneur zu erschaffen. Weil die Stadt mit ihrer fortschreitenden Individualisierung für ihn verloren sei, bleibe nur die Natur als neue Wirkungsstätte, die Entdeckung von Wäldern, Wiesen und Seen, dem Vogelflug, dem Zirpen der Grillen, dem Gequake der Frösche und dem Singen der Amsel. Statt der häßlichen Architektur entdeckt er nun einen Fuchsbau oder das Nest eines Uhus. Kein krankmachender Lärm dringt in sein Ohr, sondern die natürliche Musik der Stille, die Balsam für die Seele sei. Die Natur biete jede Menge Anschauungsunterricht, vom Kampf ums Überleben bis zur Verspieltheit der Jungtiere: „Über die Natur zu berichten bedeutet, über die Sünden der Zivilisation Auskunft zu geben.“

Über „Frühe Reisen in die Sowjetunion“ schreibt der Kulturwissenschaftler und Schriftsteller Uwe Wolff. Die Wallfahrten deutscher Intellektueller und Schriftsteller ins Reich des roten Sterns sind Legion. Das „gelobte Land der Revolution“ hatte in den 1920er und 1930er Jahren eine gewaltige Anziehungskraft. So begab sich auch Heinrich Vogeler (1872–1942) auf eine Pilgerreise in die Sowjetunion, wie alle Gläubigen sah auch er, was er sehen wollte (und durfte): die Geburt eines neuen Menschen. Das kommunistische Experiment schien voller Hoffnungen, ohne kleinbürgerliches Spießerleben in der eigenen Familie. Gefeiert wurde im Kollektiv, die Konzentrationslager und entweihten Kirchen blendete man aus, viel wichtiger war doch die Erlösung des Menschen aus Unwissenheit und Abhängigkeit. 

Selbst die stalinistischen Schauprozesse und die Ermordung von Dissidenten vermochte die Verblendung von Feuchtwanger, Brecht, Heinrich und Klaus Mann und André Gide nicht zu heilen, während Halldór Laxness sich später von seinem sowjetischen Abenteuer distanzierte.

Kontakt: Verlag Seite 9, Gerstenstraße 2, 85276 Pfaffenhofen. Das Einzelheft kostet 3,50 Euro, ein Jahresabo 21 Euro, jeweils zzgl. Versandkosten.  Mail: seite9.redaktion@gmail.com