© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Eigentlich hat das Vertrauen in die Schwarmintelligenz bei Menschen,  die Weisheit der Vielen, ja etwas für sich. Eigentlich. Bei der Wahl der größten Rocksongs „aller Zeiten“ vorige Woche jedoch irrten sich die Hörer des privaten Rundfunksenders Star FM gewaltig, landete auf dem ersten Platz doch tatsächlich „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana. Nun läßt sich über Geschmack ja bekanntlich nicht streiten, wie eine landläufige Redewendung weiß. Doch das ist falsch. Natürlich läßt sich über Geschmack streiten, und zwar trefflich, ausgiebig, leidenschaftlich. Deswegen hat Immanuel Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ zwischen „streiten“ und „disputieren“ unterschieden. Der Königsberger Philosoph meinte damit, daß über ein Geschmacksurteil „gar wohl und mit Recht“ gestritten, es aber „durch Beweise nicht entschieden“ werden könne. Und natürlich gilt das auch in Fragen musikalischer Vorlieben. Aber, liebe Radiohörer von Star FM, Hand aufs Herz, „Smells Like Teen Spirit“ auf Platz eins der besten Rocksongs? Never ever. Sicher, das Stück aus dem Herbst 1991 popularisierte das Grunge-Genre und machte Nirvana unsterblich. Auf den Rock-Thron hätte jedoch selbstredend ein Titel gehört, der zwanzig Jahre früher veröffentlicht wurde: „Stairway to Heaven“ von Led Zeppelin. Das rund achtminütige Lied von Robert Plant (Gesang) und Jimmy Page (Gitarre) hat die Rockwelt von Grund auf neu vermessen. Im Mai 2006 erhielt die – 1980 nach dem Tod von Schlagzeuger John Bonham aufgelöste – Band unter anderem dafür den „Musik-Nobelpreis“ aus der Hand von Schwedens König Carl XVI. Gustaf.

Für seine Ohrfeige während der Oscar-Verleihung verdient Will Smith Beifall und Respekt.

Held dieser Woche ist für mich ganz klar der US-Schauspieler Will Smith. Für seine Aktion, den Komiker und Filmkollegen Chris Rock während der Oscar-Verleihung vergangenen Sonntag auf der Bühne des Dolby Theatre in Los Angeles wegen dessen geschmacklosem Scherz über Smiths Ehefrau zu ohrfeigen, verdient er Beifall und Respekt. Nur seine spätere Entschuldigung hätte er sich sparen sollen.

Aphorismus-Fundstück der Woche: „Der einzige unbestechliche Ratgeber in der Krise ist die Skepsis.“ (Wolfgang Herles, Tichys Einblick, 26. März)

Zurück in die Musikwelt: Phil Collins und Genesis haben vergangenen Samstag das unwiderruflich letzte Konzert ihrer Karriere gegeben. Videos von dem Auftritt in der Londoner O2-Arena zeigen einen gesundheitlich angeschlagenen, nach Rückenoperationen im Sitzen singenden Collins, der das Publikum jedoch immer noch mitreißen und begeistern konnte. „Nach heute Abend müssen wir uns alle richtige Jobs suchen“, scherzte der 71jährige. Wehmütig, aber auch dankbar erinnere ich sein Konzert während der „Still Not Dead Yet“-Tour im Berliner Olympiastadion im Juni 2019, das ich in front of stage erleben durfte. Natürlich spielte er damals nicht nur seine Solo-Hits, sondern auch einige Genesis-Titel („Follow You Follow Me“, „Invisible Touch“). Für mich war es emotional seinerzeit schon der Abschied von einem musikalischen Lebensbegleiter.