© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Angesichts der kirchlichen Botschaften zum Russisch-Ukrainischen Krieg eine kurze Erinnerung an Matthäus 24.6: „Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei; seht zu und erschreckt nicht. Denn es muß geschehen. Aber es ist noch nicht das Ende.“

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In Deutschland fast unbeachtet, ist am 21. März Yvan Colonna gestorben. Colonna verbüßte eine lebenslange Haftstrafe, weil er 1998 Claude Erignac, den Präfekten Korsikas, erschossen hatte. Aus der Sicht des Nationalisten Colonna war das ein legitimer Ausdruck des Widerstands gegen die französische Besatzungsmacht. Nun ist Colonna im Gefängnis selbst einem Gewaltakt zum Opfer gefallen: Er wurde durch einen Islamisten ermordet. Der Vorgang hat auf Korsika für große Empörung gesorgt. Es kam zu Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen, vor allem der Jugend, die gegen den „Mörderstaat“ protestiert, den sie des geheimen Einverständnisses mit dem Täter bezichtigt. Die Stimmung hat auch die Anweisung der Regionalregierung, Trauerbeflaggung und die Trikolore an den öffentlichen Gebäuden auf Halbmast zu setzen, nicht beruhigen können. Das Begräbnis Colonnas wurde zu einer Manifestation des korsischen Nationalismus, der eine lange, bis in das 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition hat; der junge Napoleone Buonaparte gehörte zu seinen Anhängern, bevor er sich für das potentere Vaterland entschied. Allerdings stand die Bewegung wegen ihrer Verquickung mit dem organisierten Verbrechen selbst bei Freunden des Regionalismus lange Zeit in schlechtem Ruf. Das könnte sich jetzt ändern und Macron in eine weitere Krise geraten, wenn die Forderung „Los von Frankreich“ auf der „Insel der Schönheit“ lauter wird und es um den Bestand der „einen und unteilbaren Republik“ geht. Im weltpolitischen Maßstab werden die Vorgänge selbstverständlich vom Krieg in der Ukraine überschattet. Aber man sollte nicht übersehen, daß es im einen wie im anderen Fall um Nationwerdung geht, jenen oft abgebrochenen, nicht immer erfolgreichen, regelmäßig von Gewaltakten begleiteten Prozeß, durch den etwas, das bis dahin nur „Volk“ war – verstanden als ein hinreichend großer Verband von Menschen mit wichtigen Gemeinsamkeiten, insbesondere einer gemeinsamen Geschichte – zu einer „Nation“ wird: verstanden als ein hinreichend großer Verband von Menschen mit dem gemeinsamen Willen, sich politisch zu behaupten.

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Am 25. Dezember 1956, vierzehn Tage nach dem Zusammenbruch der Aufstandsbewegung gegen die kommunistische Herrschaft in Ungarn, brachte der Spiegel folgende Meldung: „In Ungarn haben die Desertionen bei jenen sowjetischen Besatzungseinheiten zugenommen, die vorwiegend aus ukrainischen Truppen bestehen. Britische Ostexperten schätzen die Zahl der Deserteure auf über 15.000 Mann. Die sowjetischen Deserteure laufen in kleinen Formationen zu ungarischen Untergrund-Gruppen über und bringen Waffen und Funkausrüstungen mit. Daraus erklärt sich, daß in letzter Zeit ungarische Freiheitssender in ukrainischer Sprache zu hören sind.“ Der Sachgehalt der Meldung ist schwer zu bestimmen, aber fest steht, daß die Kontinuität des ukrainischen Willens zur Unabhängigkeit von der russischen Herrschaft notorisch unterschätzt wird: Peter der Große betrachtete schon das Bündnis zwischen dem ukrainischen Kosaken-Ataman Iwan Stepanowitsch Masepa und Schwedens König Karl XII. als „Verrat“, zerstörte Masepa Hauptstadt Baturyn und massakrierte die gesamte nach Tausenden zählende Bevölkerung. Seine Nachfolgerin Katharina die Große zwang die ukrainischen Freibauern in das Joch der Leibeigenschaft. Doch in der ersten Reihe der Dekabristen standen Ukrainer, und die blutigsten Aufstände der Landbevölkerung Europas fanden 1830/31, 1833, 1834, 1837 und 1842 in der Ukraine statt. 1905, während der ersten Revolution, erschoß ein ukrainischer Student den verhaßten Generalgouverneur von Moskau, dann waren es ukrainische Bootsleute und Matrosen, die die berühmte Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potjemkin anzettelten. 1917 schlossen sich zuerst Mannschaften des aus Ukrainern rekrutierten Wolhynischen Garderegiments den Demonstranten an, führten Ukrainisch als Befehlssprache ein und kämpften unter den Nationalfarben Blau und Gelb. Trotz des raschen Zusammenbruchs der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geschaffenen Volksrepublik blieb die Ukraine ein Herd der Opposition. Was auch die Entschlossenheit erklärt, mit der Stalin durch den „Holodomor“ – etwa 3,5 Millionen Ukrainer wurden dem Hungertod überantwortet – diesen Unruheherd auszulöschen versuchte. Vergeblich, wie sich in der Zeit zwischen 1940 und 1955 zeigen zollte, als die Ukrainische Aufständische Armee ihren Kampf gegen die Sowjetarmee fortsetzte. Gefangene aus ihren Reihen spielten auch eine Rolle bei den Streiks und Rebellionen im Gulag von 1953, 1954, 1955, 1956. Selbst danach erlosch die Flamme des Widerstands nicht. In den sechziger und siebziger Jahren reichte das Spektrum vom Protest einzelner über Arbeitsniederlegungen bis zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Staatsorganen. Hinzu kam die wachsende Zahl ukrainischer Dissidenten vor und nach Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki 1975.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 15. April in der JF-Ausgabe 16/22.