© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Zum Wohle aller
Schöne neue Überwachungswelt: Dave Eggers erzählt in seinem Roman „Every“ von einer Zukunft, in der ein Technikkonzern unsere Privatsphäre totalitär ausforscht
Regina Bärthel

Eine künstliche Insel in der San Francisco Bay, abgeschirmt von einem drei Meter hohen stählernen Zaun. Es ist nicht die legendäre Gefängnisinsel Alcatraz, auch wenn diejenigen, die im Inneren des Eilands arbeiten und in wachsender Zahl auch wohnen, vom Leben in der Wirklichkeit abgeschnitten sind – ganz wie die einstigen Inhaftierten der Nachbarinsel. Die Rede ist von Treasure Island, einstmals eine Militärbasis und nun, in einer nicht allzu fernen Zukunft, Standort des High-Tech-Giganten Every.

Mit seinem aktuellen Roman „Every“ schreibt der außergewöhnliche US-amerikanische Autor Dave Eggers die Zukunftsvision seines 2013 erschienenen Bestsellers „The Circle“ fort. Das Technologieunternehmen „The Circle“, eine Mischung aus Apple, Facebook und Google, hat inzwischen ein marktführendes Versandunternehmen – intern nur als „der dschungel“ (mit abwertend gemeintem kleinen d) – aufgekauft und sich umbenannt: Every ist ein Megakonzern mit Monopolstellung in den Bereichen Computertechnologie, Social Media und Warenhandel via Internet. Auch sein Logo hat sich geändert: Es besteht aus drei Wellen, die um ein Zentrum gelagert sind – und ähnelt verblüffend einer rotierenden Ansaugdüse. Ein adäquates Logo, denn Every saugt alles ein, absorbiert es: Ideen, produzierende Unternehmen, innovative Start-ups; sie alle werden aufgekauft, nicht zuletzt aufgrund ihres Konkurrenzpotentials. Der Konzern verhält sich wie der Hai im Vorgängerroman, der absolut alles verschlingt und zu einem konformen grauen Granulat verdaut. 

Zugleich ist Every unter Nutzung von Daten, Algorithmen und Künstlicher Intelligenz ein ständiger Produzent von Tech-Innovationen; stets angetrieben von einer „Mischung aus gut gemeintem Utopismus und pseudofaschistischer Verhaltenskonformität“. Denn bedingungsloser Leitfaden all seiner Innovationen ist selbstredend nicht Macht und Moneten, sondern die Sicherheit der Gesellschaft wie des Einzelnen. Nur zur Vermeidung von Straftaten ist die ganze Welt bis in ihre letzten Winkel von Kameras überzogen, zeichnen Apps die Gesundheitsdaten ihrer Nutzer auf oder dienen ihnen zur fortwährenden Optimierung bezüglich politisch korrekter Sprache und Verhalten sowie persönlicher Effizienz. Vor allem aber schützt Every seine Nutzer vor Unsicherheiten, nimmt ihnen jegliche Entscheidungen ab – bewahrt sie also vor der Paralyse durch zu viele Optionen, denn freie Auswahl befördert Streß: „Sie ist die Bürde unserer Zeit und der Hauptgrund für die Malaise unseres Planeten.“ 

Atemberaubende Erkundungstour durch das Konzernsystem

Dem sich immer weiter ausbreitenden Einfluß Everys will die Hauptfigur Delaney Wells ein Ende bereiten. Mit viel Raffinesse hat sich die junge Frau eine regelkonforme Internetidentität angelegt und wird Mitarbeiterin des Konzerns. Als frisch gebackene „Everyone“ genießt sie sogar das Privileg, in ihrer Orientierungsphase alle Bereiche des Konzerns zu durchlaufen – und nimmt den Leser mit auf eine schier atemberaubende Erkundungstour durch das System mit all seinen Ideologien und Mechanismen. 

Gemeinsam mit ihrem Freund Wes verfolgt Delaney den Plan, den Konzern mit Ideen für absurd übergriffige Apps zunehmend zu radikalisieren. Irgendwann, so denken die Widerständigen, werden die Nutzer aufwachen und gegen jede weitere Vereinnahmung ihrer Privatsphäre rebellieren. Ihr erster Coup ist eine Anwendung, mit der man seinen Gesprächspartner – Freunde, Verwandte – während eines Videochats einem Lügendetektortest unterziehen kann. Denn wer möchte sich schon auf seinen Instinkt, sein zwischenmenschliches Vertrauen verlassen?

Eine rhetorisch gemeinte Frage, sind sich Delaney und Wes doch sicher, daß niemand seine engsten Beziehungen von einer KI bewerten ließe. Die App wird jedoch ein ungeheurer Erfolg. Verdutzt verstärken die beiden ihre Anstrengungen, bringen immer neue, immer absonderlichere Ideen in Umlauf, die jedoch stets begeistert angenommen werden. Ein sich stetig schneller drehender Kreisel, der zweierlei bewirkt: Erstens eine Überwachung der Bevölkerung bis in die privatesten Bereiche hinein; zweitens wird auch Wes aufgrund seiner ausgeprägten Kreativität von Every angeworben, denn der Konzern hat ein Problem: Sein CEO Mae Holland, dem Leser bereits aus „The Circle“ als erste völlig transparent lebende Person bekannt, ist nun das Gesicht von Every. Nicht aber sein Kopf, hat sie doch schon seit langem keine eigenen Ideen oder Zielsetzungen mehr beigetragen. Wes schafft Abhilfe – mit überraschendem, doch zweischneidigem Erfolg.

Bollwerk gegen die Anmaßung der freien Entscheidung 

Dave Eggers beweist immer wieder einen ausgeprägten Sinn für Ambivalenzen. Entsteht tatsächlich Gutes, wenn man Gutes tun will?, fragt er in seiner lesenswerten Erzählung „The Parade“ von 2019. Und auch im Roman „Every“ ist die Heldin Delaney bisweilen unsicher, ob sie den Konzern Every zerschlagen darf. Immerhin bietet er seinen Angestellten beste Arbeitsbedingungen, hohe Gehälter, Gesundheitsvorsorge und Renten, setzt sich für Ökologie und nachhaltige Produktion ebenso wie für Sicherheit und gegen häusliche Gewalt ein. 

Und die Menschen lieben es.

So wird Delaneys Glaube an Rechte und Pflichten des Individuums immer wieder erschüttert. Authentizität oder gar selbstständiges Denken wird nicht mehr praktiziert, ist mittlerweile schlichtweg unerwünscht. Und zwar unerwünscht nicht nur vom Weltanschauungs- und Weltverbesserungsproduzenten Every, sondern ganz besonders auch von seinen „Usern“, seinen Anhängern und Schutzbefohlenen. Denn Every bietet ihnen ein strenges moralisches Bollwerk gegen die Anmaßung der freien Entscheidung, erfüllt ihr Bedürfnis nach Sinn und Integrität. Zudem bietet es die Möglichkeit, zugunsten des Guten noch kleinste Verfehlungen zu ahnden. Gegenstimmen gibt es kaum noch: Kritischer Journalismus hat sich aufgelöst, Politiker mit abweichender Meinung werden diskreditiert – irgendein Verstoß gegen Everys Etikette findet sich immer. Und seine Datenbanken vergessen nie.

Doch ist der Konzern der einzige Treiber dieser Entwicklung? Wieviel Verantwortung trägt die Mehrheitsgesellschaft, die sich willenlos einem System unterwirft, das ihr nicht nur einen Leitfaden bietet, sondern jegliche freie Entscheidungen gemäß persönlicher Werte nimmt? Natürlich kann sich Fügsamkeit als falsch herausstellen, wie unzählige Beispiele aus der Geschichte beweisen – doch immerhin „haftet“ man in diesem Fall nicht selbst: Man glaubte der Ideologie, man tat seine Pflicht, man wollte sich als sozial erweisen. Ein Schelm, wer Parallelen zum real existierenden Heute erkennt.

Durch die totale Überwachung erinnert „Every“ natürlich an George Orwells „1984“, doch lebt es sich glücklich und wohlversorgt in dieser schönen, neuen Welt. Anders als bei Aldous Huxley ging die sexuelle Freizügigkeit allerdings vollständig verloren: Diente der (befriedigende) sexuelle Akt noch in Eggers „Circle“ als kurzfristige Flucht aus der Konformität, aus der immerwährenden, unhinterfragten Gefolgschaft, ist Sex auf dem Every-Campus völlig marginalisiert bis unerwünscht. Flirts werden vermieden, könnten sie doch als sexuelle Belästigung gedeutet werden. Und wenngleich die meisten Everyones sich in extrem körpernahe Trikots kleiden, bei Männern gern auch mit Schlitzen zur Belüftung der Hoden, darf keinesfalls auf die herausragenden Körperteile des Gegenübers – wes Geschlechts auch immer – geschaut werden, will man nicht eine Beschämung, ja Abmahnung in den „sozialen“ Medien riskieren. So bleibt im Grunde nur noch, dem (selbstredend nur der Verbesserung des Menschen dienenden) Protokoll zu folgen und sicherheitshalber den Blick gen Himmel zu richten.

Dave Eggers ist ein Meister des Erzählens. Unterhaltsam, voller Witz und mit doppeltem Boden beschreibt der Roman „Every“ eine Welt, deren Bewohner sich im Besitz des absolut Guten und Wahren wähnen. Während sich im Vorgänger „The Circle“ die Brutalität des Systems immer wieder Bahn bricht, tanzen die lebensnahen Karikaturen der Everyones auf einer bunten Blümchenwiese – nicht ahnend, welch finstere Macht – man könnte sie Wirklichkeit nennen – im Untergrund lauert.

Diese Wirklichkeit besteht eben auch aus grenzenlosem Machtstreben und -mißbrauch, aus Vorteilsnahme, Betrug und simplen Fehleinschätzungen. Doch womöglich gibt es „außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung“ (Erich Fromm). Bleibt die Frage: Ist der Roman „Every“ noch eine Dystopie – oder zeigt er gar schon unser neues Normal? Das mögen die – hoffentlich zahlreichen – Leser selbst entscheiden.

Dave Eggers: Every. Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel, Kiepenheuer und Witsch, Köln 2021, gebunden, 592 Seiten, 25 Euro

Fotos: US-Schriftsteller Dave Eggers: Lebensnahe Karikaturen der Everyones; Verwaltungsgebäude der U.S. Naval Station auf Treasure Island (2004): Der Betrieb des Marinestützpunktes auf der künstlich angelegten Insel wurde 1997 eingestellt