© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Keiner besitzt die Wahrheit
Konsens muß kein Maßstab sein: Der Philosoph Hardy Bouillon zur Wissenschaftstheorie
Erich Weede

Im Zeitalter von Greta Thunberg und ihrer Gefolgschaft herrschen gerade in der Klimadebatte ganz merkwürdige Vorstellungen, die man als Offenbarungstheorie der Wahrheit bezeichnen kann und die eine gewisse Affinität zum religiösen Denken aufweisen. Diese Vorstellungen sehen ungefähr so aus: Wissenschaftler verkünden etwas, was der Laie glauben sollte, wonach die Politik sich richten sollte. Dabei wird übersehen, daß recht oft verschiedene Wissenschaftler verschiedene Auffassungen vertreten, daß manchmal auch Wissenschaftler ihre Auffassungen ändern bzw. sich korrigieren. Es gibt ab und zu Erkenntnisfortschritte. Verglichen mit dem Kinderglauben ist schon die Konsenstheorie der Wahrheit ein Fortschritt, die nahelegt, daß Laien und Politiker die Mehrheitsauffassung der Fachwissenschaftler akzeptieren. Ein oberflächlicher Blick in die Wissenschaftsgeschichte reicht schon aus zu erkennen, daß Konsens keine Wahrheitsgarantie enthält. Vor einigen Jahrzehnten war unter Wissenschaftlern die Sorge vor einer baldigen neuen Eiszeit weiter verbreitet als die heute dominierende Sorge um den Treibhauseffekt.  

In Anbetracht weit verbreiteter Ahnungslosigkeit über Wissenschaft ist das neueste Buch des Trierer Philosophen Hardy Bouillon lesenswert, das von der „European Center of Austrian Economics Foundation“ in Liechtenstein herausgegeben worden ist. Bouillon vertritt die Korrespondenztheorie der Wahrheit. Wahr sind danach Aussagen, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dabei interessieren sich Wissenschaftler vor allem für Verallgemeinerungen oder Wenn-dann-Sätze, etwa: Wenn der CO2-Gehalt der Atmosphäre steigt, dann wird es wärmer. Woran erkennt man, ob derartige Sätze wahr oder falsch sind? Bouillon steht in der Tradition von Karl Popper, der Gewißheit über den Besitz der Wahrheit für unmöglich hält. Was wir versuchen können, ist nur herauszufinden, ob unsere Theorien falsch sind. Wenn Beobachtungen auftreten, die von der Theorie verboten sind, falsifizieren sie die Theorie. Man behält also die Theorien vorläufig, die noch nicht falsifiziert worden sind. Wenn man etwas, zum Beipsiel zunehmende Erwärmung, festgestellt und erklärt hat, dann tritt leicht Erklärungssättigung ein. Man verzichtet auf die Suche nach anderen Erklärungen. Das darf aber nicht mit einer Verifikation und schon gar nicht mit einer endgültigen Gewißheit verwechselt werden. Wenn es tatsächlich mit steigendem CO2-Gehalt wärmer wird, dann könnte das auch andere Ursachen haben. 

Die Herkunft einer Theorie erlaubt kein Urteil über deren Geltung

Außerdem gibt es bei jeder empirischen Überprüfung Meßprobleme, die in Referenztheorien behandelt werden. In der Klimaforschung arbeitet man mit Temperaturdaten verschiedener Herkunft und Qualität, die nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Dazu bedarf es der Kalibrierung, die von Referenztheorien abhängt, die (wie alle Theorien aller Fächer) ihrerseits falsch sein könnten. Anders ausgedrückt: Jede Falsifikation verrät uns nur, daß irgendeine Prämisse falsch ist, vielleicht die gerade geprüfte Theorie, vielleicht aber auch eine unvermeidbare Zusatzannahme oder die verwendete Referenztheorie. Außerdem weist Bouillon darauf hin, daß falsche Theorien gar nichts garantieren, noch nicht einmal falsche Konklusionen. Von einer richtigen Konklusion darf man nicht auf die Richtigkeit der Prämissen schließen. 

Ungefähr im ersten Viertel des Buches führt Bouillon den Leser erst einmal in die Aussagenlogik, ein selbstverständliches Instrument für Wissenschaftstheoretiker, ein und in die Grundzüge des kritischen Rationalismus. Dabei erfährt der Leser, daß die Herkunft oder Genese einer Theorie kein Urteil über deren Geltung erlaubt. Im Anschluß daran geht Bouillon zu recht komplizierten heuristischen Überlegungen über, wie Wissenschaftler nach Überprüfungen ihre Theorien weiterentwickeln könnten. Dabei läßt er sich von der österreichischen Ökonomik – von Menger, Mises und Hayek – inspirieren. Seine „österreichisch erweiterte“ Wissenschaftstheorie endet mit einer wieder recht komplexen Theorie der negativen Selektion. Um dem Leser das Verständnis zu erleichtern, setzt Bouillon dabei mehrfach kriminalistische oder medizinische Beispiele ein. 

Leichter nachvollziehbar sind Bouillons Hinweise darauf, daß auch Fachwissenschaftler Interesse an der Erhaltung ihres eigenen, oft theoriegebundenen Humankapitals haben, daß sie deshalb lieber  die Theorien ihrer Kollegen und Konkurrenten als die eigenen falsifizieren. Das muß den Erkenntnisfortschritt nicht verlangsamen. Bouillon zeigt auch, daß selbst etablierte Wissenschaftler gegen Erklärungssättigung nicht gefeit sind und etwa daraus, daß ihre eigene Erklärung (bei Verwendung bestimmter, potenziell kritisierbarer Referenztheorien) zu den Daten paßt, schließen, daß das die einzig richtige sei, etwa daß Klimawandel vorwiegend nur durch anthropogene Ursachen erklärbar sei. Das hält Bouillon für einen nicht gerechtfertigten Fehlschluß. 

In Anbetracht der politischen Bedeutung der Klimadebatte muß noch auf eine von Bouillon recht früh in dem Buch formulierte Einsicht verwiesen werden: Es besteht nicht nur die Gefahr, daß der Mensch oder die Regierungen die Theorien über den anthropogenen Klimawandel nicht akzeptieren und deshalb großer Schaden entsteht. Es ist auch denkbar, daß Regierungen großen Schaden anrichten beim Versuch, den Klimawandel zu vermeiden. Am Ende des Buches illustriert Bouillon das mit einer kritischen Analyse der deutschen Klimapolitik, die oft mit ihrer Vorbildwirkung für andere Länder gerechtfertigt wird. Nach den gängigen ökonomischen Theorien, etwa der „Logik des kollektiven Handelns“, ist das nicht zu erwarten. Als Rezensent möchte ich ein Argument hinzufügen, das Bouillon als Anhänger der österreichischen Wirtschaftstheorie vermutlich teilt, aber nicht explizit anführt: Weil Österreicher (im theoretischen Sinne, nicht als Staatsangehörigkeit) meinen, daß Planwirtschaft nicht funktionieren kann, besteht die Gefahr, daß der Versuch, den Klimawandel zu bremsen, uns in ein unproduktives Wirtschaftssystem hineinrutschen läßt. Bouillon ist ein informatives und wichtiges Buch gelungen, dem viele Leser zu wünschen sind. Die Lektüre ist allerdings anspruchsvoll.






Prof. Dr. Erich Weede lehrte Soziologie an den Universitäten Köln, Bologna und Bonn. Er ist Gründungsmitglied der Hayek-Gesellschaft.

Hardy Bouillon: Kritizistische Wissenschaftstheorie. Eine Einführung illustriert am Beispiel der Klimadebatte.Verlag buchausgabe.de, Flörsheim 2021, broschiert, 217 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Sonnenstunden-Meßgerät an der argentinischen Basis Orcadas in der Antarktis: In der Klima-forschung arbeitet man mit Temperaturdaten verschiedener Herkunft und Qualität, die nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können