© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Zur Judenfeindschaft in der Jugendbewegung
Kummervolle Anfälligkeit
(ob)

Im Juli 1943 äußerte sich Thomas Mann in einer BBC-Ansprache zum studentischen Widerstandszirkel der „Weißen Rose“, deren führende Mitglieder zum Tode verurteilt worden waren. Er deutete dieses Opfer als Wiedergutmachung von „Sünden der Vergangenheit“ und verwies dafür auf die „kummervolle Anfälligkeit der deutschen Jugend für die nationalsozialistische Lügenrevolution“. Für den auf deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte spezialisierten Zeithistoriker Thomas Gräfe (Vlotho) trug Mann damit maßgeblich dazu bei, den Blickwinkel der Forschung auf die NS-Zeit zu verengen, obwohl die „Anfälligkeit“ für völkisch-antisemitische Ideen schon bei den „Wandervögeln“ des Kaiserreichs ausgeprägt gewesen sei (Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, 27/2021). Von den noch zur Erlebnisgeneration zählenden Historikern des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Lauenstein sei dieses Phänomen aber genauso vernachlässigt worden wie von jüngeren Kollegen, die eine unbelastete Kontinuitätslinie zwischen dem „progressiven“ Teil der wilhelminischen Jugend und der grün-alternativen Bewegung konstruierten. Auch die Ableitung antisemitischer Einstellungen aus dem „kleinbürgerlichen Herkunftsmilieu“, wie Gideon Botsch (Potsdam) mutmaße, gehe fehl, da diese Jugendkultur sich autonom entwickelt habe. 


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