© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Als Österreich Ungarn kondolierte
Vor einhundert Jahren starb der letzte Habsburger-Kaiser Karl I. in seinem Exil in Portugal
Lothar Höbelt

Vor hundert Jahren starb auf Madeira der letzte Herrscher Österreich-Ungarns, Kaiser Karl I. (als ungarischer König Karl IV.). Karl war nach seinem gescheiterten zweiten Restaurationsversuch in Ungarn erst wenige Monate zuvor (JF 43/21) von den Engländern nach Funchal gebracht worden. 

Karls Bild in der Geschichte ist in einem ganz besonderen Ausmaß von Fake News, charmanter gesagt: von Fehleinschätzungen bestimmt. 1918 empörte sich die heimische Öffentlichkeit, weil der Kaiser angeblich hinter dem Rücken seines deutschen Verbündeten einen Sonderfrieden verhandeln wollte. Die Legende vom Kaiser (und seiner Frau Zita) als Verräter wurde gehegt und gepflegt, um dem österreichischen Bürgertum eine Ausrede zu liefern, warum es die Monarchie noch im Oktober 1918 beschworen und im November dann fallengelassen hatte. Nach 1945 war zwar Skepsis gegen den preußischen Militarismus hoch im Kurs. Doch für fortschrittliche Geister galten die Habsburger nach wie vor als „Gottseibeiuns“. Der „Habsburg-Kannibalismus“, wie ihn Günther Nenning nannte, feierte fröhliche Urstände. Dabei hat Karl einen Sonderfrieden eben gerade nicht angepeilt. Er wollte vielmehr einen „Universalfrieden“, ohne Sieger und Besiegte, wie ihn auch Präsident Wilson im Januar 1917 noch verkündete. Ein Sonderfriede war nur für einen einzigen Fall vorgesehen, wie es Karls Außenminister Ottokar Czernin den Verbündeten erklärte: „Annahme: Entente stellt Friedensangebot auf dem Status quo ante: Ihr sagt Weiterkämpfen. Wir sagen Schluß. Dann Bündnisfall hinfällig.“ Diese Schlußfolgerung war übrigens ganz im Sinne Bismarcks, der immer betont hatte, der Zweibund sei eine Versicherungsgesellschaft, keine Erwerbsgenossenschaft. Doch ein solches Friedensangebot war von der Entente nicht zu erhalten, selbst dann nicht, wenn man ihr Elsaß-Lothringen als Trostpreis dafür anbot, daß Rußland im Osten auf Polen verzichten müßte, dem die Mittelmächte die Unabhängigkeit versprochen hatten.

Der Krieg ging verloren. Innenpolitisch wurde daraufhin jene Situation schlagend, die ein kluger tschechischer Politiker schon 1914 so umschrieben hatte: Wir brauchen eine Politik der zwei Eisen im Feuer, weil man ja nicht wissen konnte, wie der Krieg ausgehen werde. Es ging nicht um rührselige Szenen, als ob sich die Völker der Monarchie ab einem gewissen Zeitpunkt enttäuscht von der Dynastie abgewandt hätten, sondern es ging – ab Spätsommer 1918 – um die Erkenntnis, daß sie den Krieg letzten Endes doch verloren hatte. 

Jetzt erst konnte man auf „Los von Wien“ setzen, auf Republik und nationale Unabhängigkeit. Dieses Kalkül erfaßte bald auch die Deutschen der Monarchie. Der Sozialdemokrat Karl Renner machte den bürgerlichen Wendehälsen die Umkehr schmackhaft. Man könne doch nicht an einer Staatsform festhalten, „die von ihren Trägern selbst zur Zeit als unhaltbar empfunden wird“. „Zur Zeit“ – das konnte sich natürlich auch schnell wiederum ändern. Karl wollte die revolutionäre Welle vorübergehen lassen, dann zurückkehren. In Ungarn scheiterte er 1921 damit: Die Revolution war geschlagen; Ungarn wieder eine Monarchie; aber die Nachbarn drohten mit dem Einmarsch, wenn der König zurückkäme. 

In Österreich fand im April 1922 eine Kabinettssitzung statt. Die Minister – fast alle alte kaiserliche Beamte – wollten am Trauergottesdienst für Karl teilnehmen, aber nicht den Zorn der Sozialdemokraten heraufbeschwören. Lange wurde darüber verhandelt, wer hingehen dürfe und wer nicht, damit es nur ja nicht als politische Demonstration aufgefaßt werden könne. Bundeskanzler Johann Schober hatte für sich inzwischen schon eine typisch österreichische Lösung gefunden: Er stattete dem ungarischen Gesandten einen formellen Kondolenzbesuch ab. Denn auch wenn die Ungarn ihren König gerade erst ins Exil geschickt hatten, Träger der Stephanskrone war er doch allemal ...   






Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.