© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/22 / 01. April 2022

Für das Streben der Vielen
Thorsten Polleit beleuchtet das Schaffen des liberalen Ökonomen Ludwig von Mises
Michael von Prollius

Ludwig von Mises (1881–1973) gehört zu den großen Ökonomen und Sozialphilosophen. Seine Bekanntheit ist seit der Finanzkrise über Fachkreise hinaus gewachsen. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst des Ludwig von Mises Instituts Deutschland, dessen Präsident Thorsten Polleit eine Einführung in sein Werk publiziert hat. Zunächst verständlich für jedermann in der Reihe Frankfurter Allgemeine Buch erschienen, ist es nun als Neuauflage wieder verfügbar. 

Eingerahmt wird die Werkschau mit dem Schwerpunkt auf Mises’ Monographien durch Schilderungen des Lebens und Wirkens des Wiener und New Yorker Denkers, der nach dem Ersten Weltkrieg der informelle Chefökonom Österreichs war. Auf eine Kritik von Werk und Person verzichtet Thorsten Polleit wie schon Guido Hülsmann in seiner voluminösen Ideenbiographie „The Last Knight of Liberalism“ weitgehend. Die lesenswerte chronologische Übersicht über Mises’ Schaffen erfüllt das Ziel, einen Überblick zu geben und einen Zugang zu seinem Werk zu ermöglichen. Zugleich werden Herausforderungen deutlich, die mit Kompromißlosigkeit und deren Lobpreisung verbunden sind. Gleichwohl wäre die Welt eine bessere, würden die in dem Buch dargelegten Lehren stärker berücksichtigt werden: Die unaufhörliche Destabilisierung der Wirtschaft und die privilegienbasierte Bereicherung der Finanzindustrie durch die Zentralbanken würden aufhören. Das würde zugleich dem Ruf des Kapitalismus guttun. Mises hat die Probleme von Interventionismus und monetär befeuerten Konjunkturzyklen inklusive Inflation früh und konsequent aufgezeigt, beginnend mit seiner Habilitationsschrift 1912. Frieden – nach außen und im Innern – sowie wahre separatistische Selbstbestimmung statt national- und supranationalstaatliches Streben nach Größe würden die Unterstützung von Eliten und breiten Bevölkerungsschichten genießen.

Enorme Diskrepanz der heutigen Welt von liberalen Werten Mises’

Schon die Kinder würden in der Schule das Elend des Sozialismus und all seiner Spielarten verstehen lernen. Auch Lehrer würden die wirtschaftlichen Gesetze kennen. Mises hatte die zwangsläufige ökonomische Implosion des Sozialismus 1920 nachgewiesen. Konsequenter Liberalismus würde nicht diffamiert, dafür das heute alltägliche Zuwiderhandeln gegen selbstverantwortliche Bürger und gegen die Marktwirtschaft als schädlich kritisiert werden.

In einer Welt, in der Ludwig von Mises sich größerer Bekanntheit und Beliebtheit erfreuen würde als John Maynard Keynes, würden Bürger statt Bürokraten das Sagen haben. Sein zeitloser Klassiker „Die Bürokratie“ von 1944 ist und bleibt ein Augenöffner. Politiker hätten eng beschränkte Aufgaben, zumal sich die Vielfalt von Staaten im Wettbewerb auf diejenigen Kernaufgaben beschränken würde, die tatsächlich einen Nutzen stiften – und nur solange wie die private Initiative diese wenigen Aufgaben nicht erfüllt.

Antikapitalismus wäre eine Denkhaltung, die so kritisch gesehen werden würde wie der Faschismus, weil die Vernunft und der zwanglose Zwang des besseren Arguments sich durchgesetzt hätten; politische Emotionen und politische Religionen wie der Ökologismus wären chancenlos. Vielleicht wäre die Geschichte der Neuzeit anders geschrieben worden, denn nicht Kriege und große Männer oder böse Kapitalisten und gute Politiker stünden im Mittelpunkt, sondern das wenig organisierte Streben der Vielen und die Errungenschaften von Unternehmern, Entdeckern und Erfindern. Schließlich wäre die Welt reicher und vielfältiger, die Menschen wären insgesamt eigentümlich freier, unabhängiger, sie würden unaufhörlich danach streben, das Leben ihrer Mitmenschen zu verbessern, weil genau das die Grundlage für ihr eigenes Gedeihen bildet.

Bereits diese knappe Abstraktion von Kernaussagen wesentlicher Werke des klassischen Liberalen Ludwig von Mises weist auf eine enorme Diskrepanz zur heutigen Welt hin. Ginge es nach der Deutung der Rothbard-Hoppe-Schule, die der Darstellung von „Der kompromißlose Liberale“ zugrunde liegt, dann gäbe es sogar fast keine Staaten mehr. Die anarchokapitalistische Schule interpretiert Mises als Vordenker der Privatrechtsgesellschaft und Murray Rothbard als seinen Vollender. Thorsten Polleit betont zudem, daß  Mises’ Apriorismus, das heißt „Nationalökonomie als apriorische Handlungswissenschaft“, die einzig zulässige erkenntnistheoretische Fundierung der Ökonomik sein könne. Offenkundig beschränkt das die Anschlußfähigkeit. Es wird Mises als Gründer des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung, der in Lemberg (Lwiw, Ukraine) in der galizischen Provinz des k.u.k. Reiches geboren wurde, zudem nicht gerecht, wenn wir lesen: „In der Nationalökonomie führt der Positivismus-Empirismus wissenschaftlich ins Nichts“ und „für empirische Forschung gibt es keinen Bedarf“. Folglich dürfte der Wettbewerb der Ideen schwerer werden, als die Hoffnung zum Ende des Buches andeutet. Das ist schade, da viele Erkenntnisse und Theorien der Österreichischen Schule weit über die Ökonomie hinaus wegweisend, erhellend und modern sind.

Das rigorose, kompromißlose Denken und Handeln wird von Thorsten Polleit als Vorzug herausgestellt. Dem läßt sich manches abgewinnen. In einer Zeit der Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit braucht es einen Kompaß, eine kraftvolle Stimme der Vernunft, die Irrtümer und Fehler entlarvt. In der Finanzkrise hieß es: „Wo ist (der heutige) Ludwig von Mises?“ Interessanterweise hat Mises selbst einmal geäußert, daß die Welt nicht ihn noch einmal brauche, sondern Friedrich August von Hayek. Und die größte öffentliche Wirkung in den USA erzielte Mises’ Freund und Mitstreiter, der Publizist Henry Hazlitt.

Das gemeinsame Ziel aller Freiheitsfreunde ist das Bemühen darum, die Welt besser zu machen. Das erfordert, gegen herrschende Meinungen anzugehen. Ludwig von Mises urteilte in seinem Spätwerk „Theorie und Geschichte“: „Das Wesen der Freiheit eines Individuums ist die Möglichkeit, von den traditionellen Denkweisen und Handlungsweisen abzuweichen.“

Thorsten Polleit: Ludwig von Mises. Der kompromißlose Liberale. Finanzbuch Verlag, München 2022, gebunden, 304 Seiten, 18 Euro

Foto. Ludwig von Mises, undatiertes Foto: Enorme Diskrepanz zur heutigen Welt