© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Eine Lüge aufgehalst
Der Fall Gil Ofarim: Auf Hysterie und Empörung folgt Monate später die Anklage wegen falscher Verdächtigung
Fabian Schmidt-Ahmad

Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat gegen den Sänger Gil Ofarim Anklage wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung erhoben. In scharfem Kontrast zu der Hysterie im vergangenen Oktober, als der jüdische Musiker behauptete, wegen seines Glaubens in einer Hotellobby diskriminiert worden zu sein, steht nun die wortkarge Verbreitung dieser Meldung. Denn zusammen mit Ofarim sitzen jetzt alle diejenigen auf der Anklagebank, die sich damals in einem Empörungswettbewerb gegenseitig überboten.

Als sich ein übernächtigter und verheulter Ofarim in der Nacht zum 5. Oktober vor dem Leipziger Westin Hotel filmte, wie er seine Kette mit Davidstern in die Höhe hielt, ahnte er wohl selbst nicht, was er für eine Lawine lostreten würde. Eine Lawine, die schlußendlich auch ihn selbst und seine Karriere begraben haben dürfte. Ofarim wollte sich – wie viele andere auch – an der Hotelrezeption anmelden. Das Hotel gab später an, durch eine technische Panne habe sich eine große Gruppe gebildet.

In dem folgenschweren Video beklagt Ofarim, sich beschwert zu haben, weil andere vorgelassen wurden. Ein Mitarbeiter der Rezeption hätte ihn daraufhin aufgefordert, seine Halskette einzustecken. Mit Tränen hielt er diese in die Kamera. Damit gab er – willentlich oder nicht – den Startschuß. Zu verlockend war einfach für andere die Möglichkeit, sich bei minimalen Kosten über jenen Rezeptionisten zu echauffieren, der Ofarim angeblich diskriminiert habe.

Jeder wollte dabeisein. Und wer den nächtlichen Empörungstweet verschlief und nun der Erregungswelle hinterherlief, mußte sich wenigstens durch Lautstärke an der Spitze bemerkbar machen. Denn nur dort ist jene öffentliche Aufmerksamkeit zu finden, die es abzuschöpfen gilt. Nehmen wir beispielsweise das Bündnis „Leipzig nimmt Platz“, eine der vielen gehätschelten Antifa-Gruppen der Landeshauptstadt. Wer interessiert sich normalerweise schon für Hirngespinste wie „Faschos aus Leipzig jagen“.

Jetzt aber, da die Berufsrevolutionäre ihre Empörung vor dem Hotel-eingang zum Ausdruck brachten, berichteten überregionale Medien über sie und hoben sie dadurch aus dem Meer der sonstigen linken, sich schlagenden Verbindungen Leipzigs heraus. Und auch jenseits der Antifa-Szene gelten die gleichen aufmerksamkeitsökonomischen Gesetze. „Leipzig ist kein Einzelfall“, empörte sich der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) und rühmte zugleich das milliardenteure Regierungsprogramm gegen Rechtsextremismus.

An moralisch besetzte Themen andocken und diese mit persönlichem Karrierestreben verweben – das ist zwar allgemeines Kennzeichen von Politik, aber in Deutschland wird es schnell bizarr, wie sich an Maas („Ich bin wegen Auschwitz in die Politik gegangen“) und anderen ablesen läßt. Denn durch die NS-Verbrechen als Bezugspunkt kann jede politische Debatte innerhalb kürzester Zeit nur ins Absurde kippen. Übrig bleibt ein Mob, der einen Fußabtreter für sein hypermoralisches Schaulaufen benötigt.

In diesem Fall war es das Hotel und seine beurlaubten Mitarbeiter. „Dieser offene Antisemitismus im Hotel Westin in Leipzig ist unsäglich und unerträglich“, beschwerte sich damals etwa die sächsische Justizministerin Katja Meier (Grüne). „Das muß Konsequenzen haben – und eine Entschuldigung reicht da nicht aus.“ Sich selbst zu entschuldigen oder gar Konsequenzen zu ziehen, kommt ihr selbstverständlich nicht in den Sinn. 

Nun, nach Anklageerhebung, entdeckt die Nicht-Juristin stattdessen die Unschuldsvermutung: „Vorschnelle öffentliche politische Bewertungen sind in so einer schwierigen Angelegenheit fehl am Platz, ebenso Statements, die ein Ergebnis vorwegnehmen“, heißt es jetzt in einer Stellungnahme. Diese Einschätzung hätte sich das Hotelunternehmen wohl auch gewünscht, das öffentlich an den Pranger gestellt wurde. Normalerweise wäre eine solche Welle mit Wirtschaftsschaden und einigen vernichteten beruflichen Existenzen ausgelaufen. Alleine in diesem Fall verlief die Sache atypisch – das Opfer wehrte sich.

Die sozialen Medien sind ein zweischneidiges Schwert. So wie Ofarim seine Halskette einem Millionenpublikum präsentierte, eilten ihm nun veröffentlichte Aufnahmen der Überwachungskamera hinterher, auf denen diese nicht zu erkennen ist. Das hat wohl mehr als alles andere die Kampagne in sich zusammenbrechen lassen. Auf einmal fiel die widersprüchliche Darstellung, die Anzeige des Mitarbeiters, die vorsichtigen Aussagen der Polizei auf. Am Ende der Kette folgt nun die Anklage der sächsischen Staatsanwaltschaft.

Selbstverständlich war das alles nicht. Denn dazu bedarf es Mut. Es wäre für den Mitarbeiter einfacher gewesen, klein beizugeben, Reue zu zeigen und sich irgendwo ein neues, bescheidenes Auskommen zu suchen. Es wäre auch für das Unternehmen leichter gewesen, seinen Mitarbeiter zu entlassen, sich zu distanzieren und mit Spenden an eine einschlägige Organisation freizukaufen, statt eine eigene Untersuchung einzuleiten. Ebenso für sächsische Polizei und Staatsanwaltschaft bequemer, die Sache behutsam zwischen Aktendeckeln zu begraben.

Dazu kam es nicht. Vielleicht ein Sinn für bürgerlichen Anstand? Oder die instinktive Ahnung, daß eine Lüge niemals das Soziale beherrschen darf? Denn das ist das eigentliche Problem. Wir leben in einer Gesellschaft, die mit Gleichgültigkeit Lügen ausspuckt und als Kaskadenbrunnen in alle Bereiche des Lebens hinabfließen läßt. Eine regelrechte Lügenmaschine, die Aussagen nach ihrer emotionalen Verwertbarkeit als „wahr“ oder „falsch“ kennzeichnet, unbeirrt der tatsächlichen Verhältnisse.

Denn es ist ja wahr, was Ofarim sagt. Es gibt heutzutage tatsächlich Orte in Deutschland, und täglich werden es mehr, wo es sehr gefährlich sein kann, eine Halskette mit Davidstern zu tragen. Wo sich ein Jude glücklich schätzen müßte, lediglich aus einer Warteschlange herausgewunken und nicht gleich zusammengeschlagen zu werden. Jeder weiß, was das für Orte sind. Ofarim weiß es und alle, die sich mit ihm solidarisierten. 

Diese Leute wissen auch, unterbewußt, wer dafür verantwortlich ist. Es ist nicht das Westin Hotel. Es ist auch niemand der Unglücklichen, die heute oder morgen als Projektionsfläche für judenfeindlichen Haß herhalten müssen. Sondern sie selbst, die vielen kleinen und großen Profiteure, die solche Anläße instrumentalisieren, um politische Vorteile zu erlangen. Edel, hilfreich und gut, so möchte sich wohl jeder Mensch sehen. Ekelhaft, feige und erbärmlich, das ist dagegen schwer zu ertragen. Da vergiftet man lieber die Gesellschaft mit seinen Lügen, statt sich die Wahrheit einzugestehen.