© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/22 / 08. April 2022

Unzureichend
Ahrflut: Der Abschlußbericht der Hochwasserkatastrophe gibt das tatsächliche Versagen der Behörden kaum wieder
Paul Leonhard

Mitte Juli 2021 gehen innerhalb von 24 Stunden im Einzugsgebiet der Ahr  fast 95 Liter Regenwassen pro Quadratmeter nieder. In anderen Teilen Nordwestdeutschlands waren es gar bis zu 150 Liter. Zum Vergleich: Seit 1990 fielen in der Weinregion im Durchschnitt im gesamten Juli weniger als 70 Liter. Menschen werden von einem Starkregen und Hochwasser heimgesucht, wie ihn Deutschland seit der Hamburger Sturmflut 1962 nicht mehr erleben mußte. Mehr als 180 Menschen kamen um, mehr als 800 wurden zum Teil schwer verletzt. Zehntausende verloren ihr Hab und Gut. Am stärksten betroffen waren die Bundesländer Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen.

„Wie viele Menschen durch das Erlebte schwer bzw. für ihr ganzes Leben traumatisiert sein werden, läßt sich nur erahnen“, heißt es jetzt im 85seitigen Abschlußbericht „Katastrophenhilfe, Wiederaufbau und Evaluierungsprozesse“ zur Hochwasserkatastrophe 2021, den vergangene Woche die Bundesministerien für Inneres und Finanzen zusammen vorgelegt haben: Um ein „auch nur annähernd vollständiges Bild der Ereignisse vermitteln zu können“, müßten „diese seelischen Wunden – sowohl der Betroffenen als auch der Hilfskräfte – auch Teil dieses Berichtes sein“.

Aber sie sind es ebensowenig, wie auch das offenbare behördliche Versagen oder die Kritik am Krisenmanagement auf lokaler und Landesebene vollkommen ausgeklammert werden. Die Aufklärung des Handelns vor Ort wird Untersuchungsausschüssen der jeweiligen Landtage überlassen, so auch die Frage, warum am 14. Juli in mehreren Kommunen in Rheinland-Pfalz und NRW nicht frühzeitig gewarnt und evakuiert worden war. 

So berichtet die Süddeutsche Zeitung von zahlreichen Pannen und Versäumnissen in der Krisenkommunikation der NRW-Regierung. Das Bundesland verfügt bis heute über keine Vorhersagezentrale für Hochwassergefahren, weswegen die ab 48 Stunden vor der Katastrophe vom Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz fortlaufend erstellten Hydrologischen Lageberichte weder das für Katastrophenschutz zuständige Innenministerium noch die bedrohten Städte und Kreise erreichten.

Was alles schiefgegangen ist, läßt sich aus Tageszeitungen zusammentragen, nicht aber aus dem Abschlußbericht der Ministerien von Nancy Faeser (SPD) und Christian Lindner (FDP). In diesem geben lediglich die zahlreichen Maßnahmepläne, mit denen Deutschland für künftige Naturkatastrophen gewappnet werden soll, Fingerzeig auf nicht zu wiederholende Fehler. Der Abschlußbericht beschränkt sich darauf, die Gigantomanie einer Maschine zu beschreiben, die ins Laufen kam, nachdem die Katastrophe über die Betroffenen hereingebrochen war. 23.000 Helfer von THW, Feuerwehr, Bundeswehr und Hilfsorganisationen waren allein in NRW in Spitzenzeiten im Einsatz. 

Solidarische Unterstützung der Kreise und Städte funktionierte

Auch das auf dem Solidaritätsprinzip basierende Konzept der gegenseitigen Unterstützung der Gebietskörperschaften hat funktioniert. So konnten Menschen mit Booten und Hubschraubern gerettet, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und ganze Ortschaften evakuiert, die aus ganz Deutschland eintreffenden Helfer und Spenden koordiniert eingesetzt bzw. verteilt werden.

Und die Ursachen für das Ausmaß der Katastrophe? Der Abschlußbericht verweist darauf, daß die „enormen Niederschläge auf Böden trafen, die diese Niederschlagsmengen nicht mehr aufnehmen konnten, weil sie bereits durch mehrere Regen­ereignisse gesättigt waren, aber auch, weil dichte Bebauung auch in unmittelbarer Flußnähe, die Auslassung von Retentionsflächen und großflächige Versiegelung von Flächen eine Aufnahme verhinderten“. Auch wird auf die topographischen Besonderheiten, vor allem im am schwersten betroffenen Ahrtal hingewiesen: Die Ahr überwindet auf 85 Kilometern Flußlänge 420 Höhenmeter. Enge Täler und steile Hänge prägen ihr Erscheinungsbild. Hinzu kommt der Umstand, daß kleinere Bäche innerhalb kürzester Zeit zu reißenden Fluten wurden, die ganze Ortschaften „vom Berg“ spülten.

Immerhin wird als „Leitfrage“ formuliert, was der „lernende Staat“ aus diesen Ereignissen ableiten „kann und muß, damit wir beim nächsten Mal besser vorbereitet sind“. Aufgelistet werden die Stärkung des Bevölkerungsschutzes, die Optimierung der Zusammenarbeit im Katastrophenfall, die Anpassung an die Folgen des Klimawandels, die Stärkung der Warninfrastruktur, die stärkere Nutzung der Digitalisierung beispielsweise durch digitale Lagebilder, Hochwasserschutz und die Entwicklung von Starkregenwarnkarten.

Mit Handlungsempfehlungen für den zukünftigen Umgang mit großflächigen Schadensereignissen kann der Abschlußbericht nicht aufwarten. Diese sollen erst erarbeitet und der Innenministerkonferenz auf der Herbstsitzung vorgelegt werden.

Wichtigste Lehre „aus den verheerenden Folgen des Hochwassers im Juli 2021“, so Bundesinnenministerin Nancy Faeser, sei die „Einführung von Cell-Broadcast als ergänzenden Warnkanal“ und der Ausbau der bei den Deutschen hohe Akzeptanz genießenden Sireneninfrastruktur: „Durch ihren unverwechselbaren Heulton“ erziele die Sirene einen „Weckeffekt“. Dafür stellt der Bund laut Bericht 88 Millionen Euro zur Verfügung.

Foto: Materielle und seelische Schäden: Nach der Flutkatastrophe an der Ahr bauen Kräfte des Technischen Hilfswerks in Insul eine Behelfsbrücke